Warum meistern einige Menschen schwierige Lebenssituationen ohne anhaltende Beeinträchtigung – während andere dauerhaft davon belastet sind? Der Grund dafür liegt in der Resilienz, der inneren Widerstandskraft. Sie entsteht durch kontinuierliches Training über Wochen und nicht über einzelne Übungen.
Deshalb vorab: Wenn du seit Wochen kaum schläfst, dauerhaft erschöpft bist oder regelmäßig zu Medikamenten oder Alkohol greifst, um durch den Alltag zu kommen, brauchst du ärztliche oder therapeutische Hilfe. Die im folgenden Interview vorgestellten Tipps und Mini-Übungen sind Ergänzung und keine Therapie. Und: Sie wirken nur auf Basis einer bereits vorhandenen Grund-Resilienz.
Michael, in deiner Arbeit als Berater und Coach legst du einen großen Fokus auf das Thema Resilienz. Warum ist dir das so wichtig?
Michael Merks: Aus meinen Beratungen und von Kolleginnen und Kollegen weiß ich: Die Kliniken sind aktuell voll mit Unternehmerinnen, Unternehmern und Führungskräften aus dem Mittelstand. Viele haben ihr Unternehmen mit großem Elan und kontinuierlichem Dranbleiben aufgebaut, Flauten und Tiefschläge überstanden.
Doch wir erleben seit Jahren einen vorher kaum gekannten Druck aus verschiedenen Richtungen. In solchen Situationen zeigt sich, wie entscheidend Resilienz ist. Resilienz bedeutet Widerstandsfähigkeit: Druck aushalten und nach Belastung wieder in Balance kommen. Wer das nie trainiert hat, riskiert unter dem Dauerstress seine Gesundheit – bis hin zur mentalen und körperlichen Erschöpfung. Stress und Burnout treten auf, wenn empfundene Arbeitsanforderungen größer sind als unsere Fähigkeit, mit ihnen umzugehen.
Was löst diesen Druck aus?
Erst kam Corona, dann die Inflation, Konsumflaute, geopolitische und wirtschaftliche Unsicherheiten, Auftragsrückgänge. Der Druck, der heute auf dem Mittelstand lastet, ist enorm. Früher investierte ein Betrieb Millionen in die Entwicklung von Solarpanels, heute gibt es sie aus China für einen Bruchteil des Preises. Die Ansprüche und die Anforderungen an Veränderungen wachsen, doch kleine Unternehmen kämpfen oft mit wenig Budget oder Personalmangel. Dazu kommen im Minutentakt Krisennachrichten per Pushmeldung direkt aufs Handy in die Hosentasche.
Welche Auswirkungen hat dieser dauerhafte Druck?
Viele berichten von Schlaflosigkeit, Konzentrationsproblemen oder Motivationsverlust. Andere greifen zu Tabletten, Kaffee oder Alkohol, um überhaupt zu funktionieren. Besonders Unternehmerinnen und Unternehmer denken oft: Ich darf nicht ausfallen. An mir hängen Arbeitsplätze, Familiengeschichten, Existenzen. Das ist ein enormer persönlicher Druck. Und wenn der Körper irgendwann „Stopp“ sagt, kommt das meist völlig überraschend.
Was kann ich tun, damit es gar nicht so weit kommt?
Entscheidend ist, Warnsignale ernst zu nehmen. Zum Beispiel: sich erschöpft fühlen. Immer wieder Grübeln. Negative, resignative bis zynische Haltung. Sich nicht mehr produktiv fühlen. Schlaflosigkeit. All das ist kein normaler Stress, sondern ein Alarmsignal. Viele verdrängen Symptome und verschieben damit das Problem, bis der Körper irgendwann abschaltet. Prävention bedeutet, frühzeitig gegenzusteuern und Routinen zu entwickeln, die mich stabil halten.
Was genau verstehst du unter Resilienz?
Resilienz heißt, nach Belastungen wieder in die eigene Balance zurückzufinden. Also mit Stress, Rückschlägen oder Druck so umzugehen, dass sie mich nicht dauerhaft aus der Bahn werfen. Die Steh-wieder-auf-Mentalität, die normalerweise zum Unternehmertum dazugehört, sollte einwandfrei funktionieren.
Resilienztraining kann man sich wie Muskel- oder Ausdauertraining vorstellen: einmal lernen und immer wieder anwenden. Achtsamkeit und Selbstmitgefühl sind dafür entscheidende Bausteine. Achtsamkeit heißt, wahrzunehmen, was gerade ist – ohne zu urteilen oder sofort zu reagieren. Selbstmitgefühl bedeutet, sich das zu geben, zu erlauben, was man gerade braucht. Zu sich selbst so fürsorglich sein, wie man es bei einer guten Freundin, einem guten Freund wäre. Wer beides regelmäßig übt, baut automatisch Resilienz auf.
Und wie fange ich an?
Mir ist wichtig, Missverständnisse zu vermeiden: Eine Minute am Tag macht niemanden resilient. Es gibt viele tolle kleine Übungen, aber sie ersetzen kein dauerhaftes Training. Resilienz ist kein Entspannungsprogramm, sondern ein Prozess, wie schon gesagt, wie Muskel- oder Ausdauertraining.
In wissenschaftlich evaluierten Programmen dauert die Aufbauphase etwa sechs bis zehn Wochen, mit täglich 20 bis 30 Minuten Übungszeit. Das ist die Spanne, die unser Gehirn braucht, um sich neu zu formieren, neue Einstellungen und Verhaltensweisen zu Gewohnheiten zu verankern. Danach geht es um Erhalt – genau wie im Sport: drei Einheiten pro Woche à 30 bis 60 Minuten oder, noch besser, mindestens zehn Minuten täglich trainieren.
Viele Programme setzen auf kurze Übungen für zwischendurch. Reicht das aus deiner Sicht?
Nein. Das ist eines der größten Missverständnisse und ehrlich gesagt: teilweise Scharlatanerie. Mini-Übungen können das Nervensystem kurz beruhigen, aber sie bauen keine Resilienz auf, wenn jemand chronisch erschöpft ist oder seit Jahren auf Hochtouren läuft.
Das ist wieder mit dem Sport vergleichbar: Ein geübter Golfer kann zwischendurch ein paar Abschläge machen und profitiert sofort. Ein Anfänger nicht. Genauso funktioniert Resilienztraining. Wenn eine Grundstabilität da ist, wirken Mini-Übungen wie kleine Erinnerungen an das, was der Körper schon gelernt hat. Aber wer noch gar keine Basis hat – also noch nie systematisch trainiert hat –, kann sich nicht mit „kurz durchatmen“ stabilisieren. Das ist genauso unrealistisch wie die Idee, man könne mit zwei Minuten Sport am Tag Marathonfitness erreichen.
Auch wenn Mini-Übungen kein vollständiges Training ersetzen: Welche kleinen Techniken empfiehlst du für den Alltag, um sich kurzfristig zu regulieren?
Wenn du dich berührst, etwa eine Hand auf deinen Brustkorb legst, kann dein Gehirn nicht unterscheiden zwischen Fremdberührung oder Eigenberührung. Die Botschaft ist: Wärme und Fürsorge. Forschende der Berkeley Universität haben in einer Studie 2024 herausgefunden, dass 20 Sekunden Selbstberührung nachhaltig positiv wirken, da Oxytocin, auch als Kuschelhormon bekannt, ausgeschüttet wird und gleichzeitig Stresshormone reduziert werden. Auch hier gilt: Ich kann nicht erwarten, einmal die Hand auf die Brust zu legen und schon bin ich resilient. Erste positive Auswirkungen traten bei den Studienteilnehmenden erst nach einem Monat ein.
Welche weitere Mini-Intervention kann, regelmäßig angewandt. sinnvoll sein?
In meinen Coachings vermittle ich auch gerne die IDA-Methode, kurz für: Innehalten, Durchatmen, Anker finden. Du schließt die Augen und spürst in dich hinein, entspannst alle Muskeln. Dann fokussierst du dich auf deine Atmung, atmest tief ein und aus. Schließlich nimm bewusst den Kontakt deiner Füße zum Boden wahr, das ist dein Anker. Alternativ kannst du auch aus dem Fenster schauen oder auf ein schönes Bild und deine Gedanken von Zukunftsängsten ablenken. Und einfach mal da sein, wo du körperlich bist.
Und welche Wirkung hat das auf die Führung?
Führungskräfte mit hohem Selbstmitgefühl sind handlungsfähiger. Sie spüren nicht nur, wenn es anderen schlecht geht, sondern handeln und unterstützen. Das stärkt Vertrauen und psychologische Sicherheit im Team. Und: Wer lernt, sich selbst freundlich zu begegnen, kann auch andere besser führen. Und ein toller Effekt setzt ein: Wir fühlen uns verbunden und wohl dabei. Das sogenannte Belohnungszentrum im Gehirn schüttet die Hormone Dopamin, Endorphine und Serotonin aus, Wohlgefühl, Stressreduktion, emotionale Stabilität und Ausgeglichenheit setzen ein.
Wie kann ich Resilienz noch ins Team tragen?
Unser Gehirn ist oft im Problemlösebereich und nimmt Erfolg nicht wahr. Wir wissen, dass ein Fokus auf die Stärken uns stärkt, ein Fokus auf die positiven Leistungen und Ergebnisse und der Frage nach Verbesserungsmöglichkeiten unser Gehirn kreativer arbeiten lässt als der Fokus auf Probleme.
Manche lieben „Problembaden“ oder verharren bei der Überzeugung, dass wir unter Druck bessere Leistungen bringen. Wenn euch etwas gelungen ist, feiert es! Statt schon über das nächste Projekt zu grübeln, könnt ihr bewusst innehalten und wertschätzen, was ihr erreicht habt.
Wenn du Führungskräften einen einzigen Rat für den Alltag geben würdest – welcher wäre das?
Warte nicht, bis dein Körper die Notbremse zieht. Resilienz entsteht nicht aus ein paar ruhigen Atemzügen am Abend. Am Anfang braucht es eine Phase, in der du dich wirklich um dich kümmerst – bewusst, regelmäßig, intensiv. Erst dann können kleine Übungen im Alltag Halt geben. Wer seine Widerstandskraft aktiv trainiert und dann pflegt, bleibt handlungsfähig. Wer wartet, bis der Körper stoppt, kommt meist zu spät.

Michael Merks ist Diplom-Kaufmann, systemischer Coach und Experte für Resilienz und Führung. Nach 14 Jahren in leitenden Positionen berät und begleitet er seit über zwei Jahrzehnten Führungskräfte, Teams und Organisationen. Er ist Mitinhaber des Beratungsinstituts The mindful spaces.