Wer immer es in der Vergangenheit wagte, auf die zunehmend offensichtlich werdenden Unzulänglichkeiten auch nur hinzuweisen, diskreditierte sich sofort in der bürgerlichen Gesellschaft dieser Republik.
Offenbar brauchte es den aberwitzigen Ausbruchsversuch eines völlig desperaten Bundeskanzlers, um einer breiten Öffentlichkeit deutlich zu machen, dass unser Grundgesetz nichts taugt. Und zwar nicht nur an diesem Punkt.
Ähnlich widersinnig wie das fehlende Selbstauflösungsrecht des Parlaments sind beispielsweise auch die Verfassungsregeln zum Föderalismus. Die Reformblockade, die wir seit Jahrzehnten in Bonn und Berlin erleben, ist nicht den jeweiligen politischen Akteuren zuzuschieben – wir verdanken sie letztlich den Vätern des Grundgesetzes. Denn aus der damals durchaus berechtigten Furcht vor einer übermächtigen Bundesregierung haben sie auf das Modell Dauer-Patt statt politischer Stärke der Exekutive gesetzt.
Was wir nun alle sehen: Unser Land ist so nicht mehr regierbar. Der bald neu gewählte Bundestag muss sich vor allen anderen Maßnahmen zu einer Revision des Grundgesetzes zwingen. Tut er das nicht, so sind alle Anläufe zu einer grundlegenden Reform der Wirtschafts- und Sozialpolitik von vornherein zum Scheitern verurteilt. Deutschland braucht weniger einen neuen Kanzler. Deutschland braucht vor allem einen starken Kanzler.
Die EU muss sich neu definieren
So unantastbar wie das Grundgesetz war auch die Idee eines vereinten Europas. Bisher jedenfalls. Ohne ihre Wähler je wirklich gefragt zu haben, beraubten die Politiker über fast 50 Jahre ihre Länder der Souveränitätsrechte. Und die Bürger ihrer nationalen Identität. Die Plebiszite in Frankreich und Holland waren die erste Möglichkeit für die Bürger in Europa, ihren Regierungen zu zeigen, dass dieses Europa der Politiker nicht das Europa der Menschen ist.
Wenn die Idee von Europa überleben soll, dann muss sich die EU jetzt neu definieren. Die Vorgaben dazu darf indes nicht Brüssel liefern. Europas Bürger müssen direkte Mitwirkungsrechte bekommen, sei es über Referenden oder über ein Europäisches Parlament, das seinen Namen verdient.
Auf Europa und Deutschland warten nun zwei – vermutlich einmalige – große historische Chancen. Und die Aussichten, dass diese auch wirklich genutzt werden, stehen gar nicht so schlecht. Unsere Politiker mussten in diesem Sommer lernen, und das gilt für Deutschland wie Europa: Was sie bislang als Stütze des Systems empfunden haben, war in Wahrheit eine Fessel.
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