Christian Lindners Wutrede
Das Ende der Scham

Ein hämischer Zwischenruf über sein Scheitern als Unternehmer bringt FDP-Chef Christian Lindner in Rage. Warum der Liberale mit seiner Wutrede einen Fehler beging - und dennoch Recht hat: ein Kommentar.

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FPD-Chef Christian Lindner bei seiner umstrittenen Wutrede im Landtag in NRW.
FPD-Chef Christian Lindner bei seiner umstrittenen Wutrede im Landtag in NRW.
© dpa

Es gibt in Deutschland ein Projekt namens Anonyme Insolvenzler. Menschen, die finanziell gescheitert sind, treffen sich, um sich Halt zu geben, sich auszutauschen. Die Gruppe hilft, mit dieser vermeintlichen Schmach umzugehen. Viele Tausend Teilnehmer sind bereits zu den Treffen gekommen. Eine der Grundregeln: Man nennt sich nur beim Vornamen.

Scheitern gilt in Deutschland als peinlich. Das bekam auch FDP-Chef Christian Lindner vergangene Woche im Düsseldorfer Landtag zu spüren. Als er eine neue Gründungskultur in Deutschland forderte, rief ein SPD-Abgeordneter hämisch dazwischen, Lindner habe damit ja wohl seine Erfahrung. Der Kommentar spielt darauf an, dass der FDP-Mann selbst gründete – und scheiterte. Vor beinah 15 Jahren ging seine Internet-Firma Moomax im Zuge des Niedergangs der New Economy insolvent.

Lindner reagierte darauf mit einer Wutrede, die seit dem Wochenende auf Youtube ein Hit ist: „Herr Kollege, mit mir können Sie das ja machen“, poltert darin der Liberale. „Ich bin FDP-Vorsitzender, ich bin andere Anwürfe gewohnt. Aber welchen Eindruck macht so ein dümmlicher Zwischenruf wie Ihrer auf irgendeinen gründungswilligen jungen Menschen?“

Warum Christian Lindner recht hat

Es spricht nicht für die Fehlerkultur von Christian Lindner selbst, wenn er für den womöglich unüberlegten Zwischenruf des Parlamentariers gleich Ministerpräsidentin Hannelore Kraft voller Spott mit in Sippenhaft nimmt, auf die komplette Sozialdemokratie einkeilt und seinen Spott über dem öffentlichen Dienst auskippt. Aber mit seiner Kernthese hat der Mann Recht.

Die Angst vorm Scheitern lähmt. Jeden einzelnen.

Wer Angst vor Fehlern hat, der bleibt in gewohnten Bahnen, probiert nichts Neues, hat keine Chance auf großen Erfolg. Studien zeigen: Wer seinem Kind sagt „Fall nicht hin“, erhöht damit die Wahrscheinlichkeit, dass das Kind fällt um ein Vielfaches. Sogar die Unfallkasse NRW schreibt in einem Positionspapier, in dem es um Unfallvorsorge geht: Kinder haben ein Recht auf blaue Flecken.

Dennoch werden wir von klein auf darauf trainiert, bloß nichts falsch zu machen. Schon in der Schule beurteilen Lehrer die Kinder oft nicht danach, was diese leisten und können, sondern nach der Anzahl der Fehler, die sie gemacht haben. Das ist fatal. Der Fokus auf Fehler führt zu Fehlern. Im Grunde wissen wir das. Niemand möchte von einem Arzt operiert werden, der Angst hat, etwas falsch zu machen.

Die Angst vorm Scheitern lähmt ganze Teams.

Wer Angst hat, etwas falsch zu machen, macht lieber gar nichts. Schlimmer noch: In Unternehmen, in denen nicht offen über Fehler gesprochen werden kann, werden diese vertuscht. Fehler können sich dadurch unbemerkt ausbreiten, vermehren, vergrößern. Wenn sich in Deutschland die Baukosten von Philharmonien verzehnfachen und die Eröffnung von Flughäfen um Jahre verschoben werden müssen, dann hat das auch etwas mit einer schlechten Fehlerkultur zu tun.

Ausgerechnet eine Branche, deren Tätigkeiten hoch riskant sind, hat das längst verstanden. In den 70er Jahren etwa fand man heraus, dass in Flugzeugen alle vier Minuten ein Fehler passiert. Aber in der Regel führt nur eine Verkettung von Fehlern zum Absturz. Seither trainieren Flugzeugbesatzungen, ohne Schuldzuweisungen über Fehler zu reden, Probleme ohne Blick auf die Hierarchie offen anzusprechen. Das Motto ist: Schämt euch nicht! Teilt eure Fehler mit, lernt gemeinsam daraus. Der Erfolg ist frappierend: Die Gefahr, heute bei einem Flugzeugabsturz zu sterben, liegt bei 1 zu 60 Millionen – und das liegt nur in zweiter Linie an besseren Maschinen.

Die Angst vorm Scheitern lähmt die deutsche Wirtschaft.

Der Anteil der Gründer liegt in Deutschland deutlich unter 2 Prozent, in den USA haben weit über 10 Prozent der Erwachsenen in den letzten drei Jahren ein Start-up gegründet. Aus Furcht, zu versagen, versuchen es die meisten Deutschen gar nicht erst, ihr eigenes Unternehmen aufzubauen. Sie wissen, dass es eine zweite Chance oft nicht gibt: Banken und Investoren machen hierzulande einen großen Bogen um gescheiterte Gründer. In den USA ist das anders: Wer einmal gescheitert ist, der weiß nun schließlich, wie es nicht geht.

Dass ein zweiter Anlauf mehr Sinn macht, als sich ewig zu grämen, liegt auf der Hand: Lars Hinrichs ist erst mit einer PR- und Kommunikations-Agentur pleite gegangen, bevor er mit der Karriereplattform Xing ein Millionenbusiness schuf. Max Levchin ist drei Mal gescheitert – dann gründete er Paypal.

Christian Lindner wagte nach dem Crash eine zweite Karriere in der Politik. Seine Chancen, damit erfolgreich zu sein, sind mit seiner Wutrede vermutlich gestiegen.

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Es gibt in Deutschland ein Projekt namens Anonyme Insolvenzler. Menschen, die finanziell gescheitert sind, treffen sich, um sich Halt zu geben, sich auszutauschen. Die Gruppe hilft, mit dieser vermeintlichen Schmach umzugehen. Viele Tausend Teilnehmer sind bereits zu den Treffen gekommen. Eine der Grundregeln: Man nennt sich nur beim Vornamen. Scheitern gilt in Deutschland als peinlich. Das bekam auch FDP-Chef Christian Lindner vergangene Woche im Düsseldorfer Landtag zu spüren. Als er eine neue Gründungskultur in Deutschland forderte, rief ein SPD-Abgeordneter hämisch dazwischen, Lindner habe damit ja wohl seine Erfahrung. Der Kommentar spielt darauf an, dass der FDP-Mann selbst gründete – und scheiterte. Vor beinah 15 Jahren ging seine Internet-Firma Moomax im Zuge des Niedergangs der New Economy insolvent. Lindner reagierte darauf mit einer Wutrede, die seit dem Wochenende auf Youtube ein Hit ist: "Herr Kollege, mit mir können Sie das ja machen“, poltert darin der Liberale. „Ich bin FDP-Vorsitzender, ich bin andere Anwürfe gewohnt. Aber welchen Eindruck macht so ein dümmlicher Zwischenruf wie Ihrer auf irgendeinen gründungswilligen jungen Menschen?" Warum Christian Lindner recht hat Es spricht nicht für die Fehlerkultur von Christian Lindner selbst, wenn er für den womöglich unüberlegten Zwischenruf des Parlamentariers gleich Ministerpräsidentin Hannelore Kraft voller Spott mit in Sippenhaft nimmt, auf die komplette Sozialdemokratie einkeilt und seinen Spott über dem öffentlichen Dienst auskippt. Aber mit seiner Kernthese hat der Mann Recht. Die Angst vorm Scheitern lähmt. Jeden einzelnen. Wer Angst vor Fehlern hat, der bleibt in gewohnten Bahnen, probiert nichts Neues, hat keine Chance auf großen Erfolg. Studien zeigen: Wer seinem Kind sagt „Fall nicht hin“, erhöht damit die Wahrscheinlichkeit, dass das Kind fällt um ein Vielfaches. Sogar die Unfallkasse NRW schreibt in einem Positionspapier, in dem es um Unfallvorsorge geht: Kinder haben ein Recht auf blaue Flecken. Dennoch werden wir von klein auf darauf trainiert, bloß nichts falsch zu machen. Schon in der Schule beurteilen Lehrer die Kinder oft nicht danach, was diese leisten und können, sondern nach der Anzahl der Fehler, die sie gemacht haben. Das ist fatal. Der Fokus auf Fehler führt zu Fehlern. Im Grunde wissen wir das. Niemand möchte von einem Arzt operiert werden, der Angst hat, etwas falsch zu machen. Die Angst vorm Scheitern lähmt ganze Teams. Wer Angst hat, etwas falsch zu machen, macht lieber gar nichts. Schlimmer noch: In Unternehmen, in denen nicht offen über Fehler gesprochen werden kann, werden diese vertuscht. Fehler können sich dadurch unbemerkt ausbreiten, vermehren, vergrößern. Wenn sich in Deutschland die Baukosten von Philharmonien verzehnfachen und die Eröffnung von Flughäfen um Jahre verschoben werden müssen, dann hat das auch etwas mit einer schlechten Fehlerkultur zu tun. Ausgerechnet eine Branche, deren Tätigkeiten hoch riskant sind, hat das längst verstanden. In den 70er Jahren etwa fand man heraus, dass in Flugzeugen alle vier Minuten ein Fehler passiert. Aber in der Regel führt nur eine Verkettung von Fehlern zum Absturz. Seither trainieren Flugzeugbesatzungen, ohne Schuldzuweisungen über Fehler zu reden, Probleme ohne Blick auf die Hierarchie offen anzusprechen. Das Motto ist: Schämt euch nicht! Teilt eure Fehler mit, lernt gemeinsam daraus. Der Erfolg ist frappierend: Die Gefahr, heute bei einem Flugzeugabsturz zu sterben, liegt bei 1 zu 60 Millionen - und das liegt nur in zweiter Linie an besseren Maschinen. Die Angst vorm Scheitern lähmt die deutsche Wirtschaft. Der Anteil der Gründer liegt in Deutschland deutlich unter 2 Prozent, in den USA haben weit über 10 Prozent der Erwachsenen in den letzten drei Jahren ein Start-up gegründet. Aus Furcht, zu versagen, versuchen es die meisten Deutschen gar nicht erst, ihr eigenes Unternehmen aufzubauen. Sie wissen, dass es eine zweite Chance oft nicht gibt: Banken und Investoren machen hierzulande einen großen Bogen um gescheiterte Gründer. In den USA ist das anders: Wer einmal gescheitert ist, der weiß nun schließlich, wie es nicht geht. Dass ein zweiter Anlauf mehr Sinn macht, als sich ewig zu grämen, liegt auf der Hand: Lars Hinrichs ist erst mit einer PR- und Kommunikations-Agentur pleite gegangen, bevor er mit der Karriereplattform Xing ein Millionenbusiness schuf. Max Levchin ist drei Mal gescheitert – dann gründete er Paypal. Christian Lindner wagte nach dem Crash eine zweite Karriere in der Politik. Seine Chancen, damit erfolgreich zu sein, sind mit seiner Wutrede vermutlich gestiegen.
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