Pflicht zur Arbeitszeiterfassung
Was das Arbeitszeit-Urteil für Ihren Betrieb bedeutet

Arbeitgeber müssen die Arbeitszeit aller Mitarbeiter erfassen – so klare Worte des Bundesarbeitsgerichts hatten selbst Experten nicht erwartet. Was das Urteil für Unternehmerinnen und Unternehmer bedeutet.

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Pflicht zur Arbeitszeiterfassung
© Peter Dazeley / The Image Bank / Getty Images

Welche Folgen hat das BAG-Urteil für Unternehmen?

Arbeitgeber müssen die Arbeitszeit ihrer Beschäftigten penibel dokumentieren –  generell und ohne Ausnahme (Az.: 1 ABR 22/21). Damit ändert sich die geltende Rechtslage für die Arbeitszeiterfassung: Bislang mussten nur Überstunden und Sonntagsarbeit dokumentiert werden, nicht aber die komplette Arbeitszeit.

Dabei spielt keine Rolle, ob es in dem Unternehmen einen Betriebsrat gibt oder nicht – die Arbeitszeit muss in jedem Betrieb aufgezeichnet werden.

„Das BAG-Urteil wird für Unternehmen erhebliche Auswirkungen auf bestehende Arbeitszeitmodelle haben, insbesondere auf Vertrauensarbeitszeitmodelle“, sagt Michael Kalbfus, Partner der Kanzlei Noerr in München. „Unternehmen werden nun Lösungen zur umfassenden Arbeitszeiterfassung einrichten müssen.“

Wie diese konkret aussehen können, lässt sich ohne eine gesetzliche Neuregelung aber nicht sagen. „Eine Pauschallösung gibt es aktuell nicht“, so Kalbfus. Anstatt alle Mitarbeiter hektisch mit Excel-Listen zur Zeiterfassung auszustatten, empfiehlt er, zunächst „mit Augenmaß vorzugehen und sich ein Gesamtbild zu verschaffen“: Welche Mitarbeiter im Unternehmen erfassen ihre Arbeitszeit nicht? Könnten diese mit einem Zeiterfassungstool ausgestattet werden, das in anderen Abteilungen womöglich schon verwendet wird?

Zudem ist mit der BAG-Entscheidung fraglich geworden, ob Beschäftigte ihre Arbeitszeit überhaupt dokumentieren dürfen oder ob das nicht Aufgabe des Arbeitgebers ist. Zwar geht Anwalt Kalbfus davon aus, dass Arbeitnehmer ihre Arbeitszeiten auch künftig selbst aufschreiben dürfen, doch streng genommen gibt es dafür zur Zeit – ohne ein neues Gesetz – keine Rechtsgrundlage.

Was ist mit Vertrauensarbeitszeit und Arbeit im Homeoffice?

Das BAG hat die Vertrauensarbeitszeit, mobiles Arbeiten und Homeoffice nicht von der Pflicht zur Arbeitszeiterfassung ausgenommen. Im Gegenteil – aus dem Hinweis des Gerichts, dass Arbeitnehmer vor Fremd- und Selbstausbeutung geschützt werden müssen, lässt sich schließen, dass die Arbeitszeit im Homeoffice erst recht dokumentiert werden muss.

Laut Einschätzung von Arbeitsrechtler Kalbfus bedeutet das Urteil wohl einen „teils erheblichen Rückschritt in Bezug auf die in jüngerer Vergangenheit sehr beliebt gewordenen flexiblen Arbeitsmodelle“. Der Trend geht zu mehr Kontrolle.

Mehr zu Vertrauensarbeitszeit hier: Das sollten Arbeitgeber über Vertrauensarbeitszeit wissen

Was genau hat das BAG überhaupt entschieden?

Der Betriebsrat einer vollstationären Wohneinrichtung verlangte von der Arbeitgeberin, eine elektronische Arbeitszeiterfassung einzuführen. Eine Betriebsvereinbarung zu diesem Thema scheiterte, also zog der Betriebsrat vor die Einigungsstelle. Dort monierte die Arbeitgeberin, der Betriebsrat dürfe die Einführung einer Arbeitszeiterfassung gar nicht anstoßen – er habe, juristisch gesprochen, kein „Initiativrecht“. Die Sache ging vor Gericht.

Als der Fall beim Bundesarbeitsgericht angekommen war, erwarteten Experten, dass das BAG nun ein Grundsatzurteil zum Initiativrecht des Betriebsrats fällen würde. Doch das interessierte die Richterinnen und Richter gar nicht. Sie gingen in ihrem Urteil noch viel weiter.

Sie entschieden: Der Betriebsrat kann vom Arbeitgeber nicht verlangen, eine Arbeitszeiterfassung einzuführen – aber nicht, weil er dazu kein Recht habe. Sondern weil der Arbeitgeber schon aufgrund der geltenden Gesetze zur Arbeitszeiterfassung verpflichtet sei.

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Mit anderen Worten: Der Betriebsrat kann nichts verlangen, was der Arbeitgeber laut Gesetz sowieso tun muss – in diesem Fall: penibel die Arbeitszeit seiner Beschäftigten zu dokumentieren. Mit so einer kühnen Entscheidung hatte niemand gerechnet, denn sie stellt die bisherige Praxis auf den Kopf.

Was  bedeutet das für die Regelungen im Arbeitszeitgesetz?

Zwar steht in § 16 des Arbeitszeitgesetzes, dass nur Überstunden und Sonntagsarbeit dokumentiert werden müssen. Doch das ist nun hinfällig. Denn das BAG stützt seine Entscheidung auf das Arbeitsschutzgesetz. Nach dessen § 3 seien Arbeitgeber schon heute verpflichtet, „ein System einzuführen, mit dem die von den Arbeitnehmern geleistete Arbeitszeit erfasst werden kann“. Das solle die Beschäftigten vor „Fremdausbeutung und Selbstausbeutung“ schützen, so das Gericht.

Dass die Richter nun plötzlich das Arbeitsschutzgesetz hervorholen, wo bislang alle nur vom Arbeitszeitgesetz redeten, liegt an einem Urteil des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) von 2019: Die europäischen Richter entschieden seinerzeit, dass Arbeitgeber die Arbeitszeit ihrer Mitarbeiter erfassen müssen (Az.: C-55/18). EuGH-Urteile richten sich aber nicht an die Wirtschaft, sondern an den deutschen Staat, der seitdem dringend das Arbeitszeitgesetz reformieren muss – was ihm seit drei Jahren offensichtlich nicht gelingt.

Mehr zum EuGH-Urteil hier: Die Rechtslage zur Zeiterfassung – und was sich ändern wird

Mit dem Kniff, ein anderes Gesetz heranzuziehen und entsprechend auszulegen, hat das Bundesarbeitsgericht den Gesetzgeber quasi links überholt – und das EuGH-Urteil in Deutschland umgesetzt. Das Arbeitszeitgesetz, das jetzt teilweise nicht mehr angewendet werden darf, ist rechtlich gesehen ein Totalschaden.

Wie geht es jetzt weiter?

Wie die Arbeitszeiterfassung im Homeoffice genau aussehen muss und ob Unternehmer die Dokumentation an ihre Angestellten delegieren dürfen, lässt sich bis zu einer Reform des Arbeitszeitgesetzes nicht genau sagen. Klar ist indes: Der Betriebsrat kann die Einführung einer Arbeitszeiterfassung im Unternehmen zwar nach wie vor nicht verlangen, darf aber mitreden, wie die konkrete Lösung auszusehen hat.

Mit dem Urteil dürfte der Druck auf die Bundesregierung noch steigen. Immerhin hat sie das Arbeitszeitgesetz bereits auf ihrem inoffiziellen Aufgabenzettel, dem Koalitionsvertrag, stehen. Man wolle prüfen, welchen Anpassungsbedarf man angesichts der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zum Arbeitszeitrecht sehe. „Dabei müssen flexible Arbeitszeitmodelle (z. B. Vertrauensarbeitszeit) weiterhin möglich sein.“

Mehr zu Zeiterfassungs-Tools hier: 4 Methoden, um die Arbeitszeit im Team zu dokumentieren

Während die Gewerkschaften für die Arbeitszeit im Homeoffice eher noch strengere Kontrollen fordern, wünschen sich manch Arbeitsmarktforscher und auch Rechtsexperten wie der Fachanwalt Wolfgang Lipinski von der Kanzlei Advant Beiten eine umfassende Reform. „Am dringendsten sollte der Gesetzgeber die Flexibilität im Arbeitsverhältnis dadurch stärken, dass er die tägliche Acht-Stunden-Arbeitszeitgrenze abschafft und stattdessen eine Wochenhöchstarbeitszeit einführt“, so Lipinski. Das existierende Arbeitszeitrecht entspreche häufig nicht mehr der praktischen Lebenswirklichkeit.

Welche Folgen hat das BAG-Urteil für Unternehmen? Arbeitgeber müssen die Arbeitszeit ihrer Beschäftigten penibel dokumentieren –  generell und ohne Ausnahme (Az.: 1 ABR 22/21). Damit ändert sich die geltende Rechtslage für die Arbeitszeiterfassung: Bislang mussten nur Überstunden und Sonntagsarbeit dokumentiert werden, nicht aber die komplette Arbeitszeit. Dabei spielt keine Rolle, ob es in dem Unternehmen einen Betriebsrat gibt oder nicht – die Arbeitszeit muss in jedem Betrieb aufgezeichnet werden. „Das BAG-Urteil wird für Unternehmen erhebliche Auswirkungen auf bestehende Arbeitszeitmodelle haben, insbesondere auf Vertrauensarbeitszeitmodelle“, sagt Michael Kalbfus, Partner der Kanzlei Noerr in München. „Unternehmen werden nun Lösungen zur umfassenden Arbeitszeiterfassung einrichten müssen.“ Wie diese konkret aussehen können, lässt sich ohne eine gesetzliche Neuregelung aber nicht sagen. „Eine Pauschallösung gibt es aktuell nicht“, so Kalbfus. Anstatt alle Mitarbeiter hektisch mit Excel-Listen zur Zeiterfassung auszustatten, empfiehlt er, zunächst „mit Augenmaß vorzugehen und sich ein Gesamtbild zu verschaffen“: Welche Mitarbeiter im Unternehmen erfassen ihre Arbeitszeit nicht? Könnten diese mit einem Zeiterfassungstool ausgestattet werden, das in anderen Abteilungen womöglich schon verwendet wird? Zudem ist mit der BAG-Entscheidung fraglich geworden, ob Beschäftigte ihre Arbeitszeit überhaupt dokumentieren dürfen oder ob das nicht Aufgabe des Arbeitgebers ist. Zwar geht Anwalt Kalbfus davon aus, dass Arbeitnehmer ihre Arbeitszeiten auch künftig selbst aufschreiben dürfen, doch streng genommen gibt es dafür zur Zeit - ohne ein neues Gesetz - keine Rechtsgrundlage. Was ist mit Vertrauensarbeitszeit und Arbeit im Homeoffice? Das BAG hat die Vertrauensarbeitszeit, mobiles Arbeiten und Homeoffice nicht von der Pflicht zur Arbeitszeiterfassung ausgenommen. Im Gegenteil – aus dem Hinweis des Gerichts, dass Arbeitnehmer vor Fremd- und Selbstausbeutung geschützt werden müssen, lässt sich schließen, dass die Arbeitszeit im Homeoffice erst recht dokumentiert werden muss. Laut Einschätzung von Arbeitsrechtler Kalbfus bedeutet das Urteil wohl einen „teils erheblichen Rückschritt in Bezug auf die in jüngerer Vergangenheit sehr beliebt gewordenen flexiblen Arbeitsmodelle“. Der Trend geht zu mehr Kontrolle. Mehr zu Vertrauensarbeitszeit hier: Das sollten Arbeitgeber über Vertrauensarbeitszeit wissen Was genau hat das BAG überhaupt entschieden? Der Betriebsrat einer vollstationären Wohneinrichtung verlangte von der Arbeitgeberin, eine elektronische Arbeitszeiterfassung einzuführen. Eine Betriebsvereinbarung zu diesem Thema scheiterte, also zog der Betriebsrat vor die Einigungsstelle. Dort monierte die Arbeitgeberin, der Betriebsrat dürfe die Einführung einer Arbeitszeiterfassung gar nicht anstoßen – er habe, juristisch gesprochen, kein „Initiativrecht“. Die Sache ging vor Gericht. Als der Fall beim Bundesarbeitsgericht angekommen war, erwarteten Experten, dass das BAG nun ein Grundsatzurteil zum Initiativrecht des Betriebsrats fällen würde. Doch das interessierte die Richterinnen und Richter gar nicht. Sie gingen in ihrem Urteil noch viel weiter. Sie entschieden: Der Betriebsrat kann vom Arbeitgeber nicht verlangen, eine Arbeitszeiterfassung einzuführen – aber nicht, weil er dazu kein Recht habe. Sondern weil der Arbeitgeber schon aufgrund der geltenden Gesetze zur Arbeitszeiterfassung verpflichtet sei. Mit anderen Worten: Der Betriebsrat kann nichts verlangen, was der Arbeitgeber laut Gesetz sowieso tun muss – in diesem Fall: penibel die Arbeitszeit seiner Beschäftigten zu dokumentieren. Mit so einer kühnen Entscheidung hatte niemand gerechnet, denn sie stellt die bisherige Praxis auf den Kopf. Was  bedeutet das für die Regelungen im Arbeitszeitgesetz? Zwar steht in § 16 des Arbeitszeitgesetzes, dass nur Überstunden und Sonntagsarbeit dokumentiert werden müssen. Doch das ist nun hinfällig. Denn das BAG stützt seine Entscheidung auf das Arbeitsschutzgesetz. Nach dessen § 3 seien Arbeitgeber schon heute verpflichtet, „ein System einzuführen, mit dem die von den Arbeitnehmern geleistete Arbeitszeit erfasst werden kann“. Das solle die Beschäftigten vor „Fremdausbeutung und Selbstausbeutung“ schützen, so das Gericht. Dass die Richter nun plötzlich das Arbeitsschutzgesetz hervorholen, wo bislang alle nur vom Arbeitszeitgesetz redeten, liegt an einem Urteil des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) von 2019: Die europäischen Richter entschieden seinerzeit, dass Arbeitgeber die Arbeitszeit ihrer Mitarbeiter erfassen müssen (Az.: C-55/18). EuGH-Urteile richten sich aber nicht an die Wirtschaft, sondern an den deutschen Staat, der seitdem dringend das Arbeitszeitgesetz reformieren muss – was ihm seit drei Jahren offensichtlich nicht gelingt. Mehr zum EuGH-Urteil hier: Die Rechtslage zur Zeiterfassung – und was sich ändern wird Mit dem Kniff, ein anderes Gesetz heranzuziehen und entsprechend auszulegen, hat das Bundesarbeitsgericht den Gesetzgeber quasi links überholt – und das EuGH-Urteil in Deutschland umgesetzt. Das Arbeitszeitgesetz, das jetzt teilweise nicht mehr angewendet werden darf, ist rechtlich gesehen ein Totalschaden. Wie geht es jetzt weiter? Wie die Arbeitszeiterfassung im Homeoffice genau aussehen muss und ob Unternehmer die Dokumentation an ihre Angestellten delegieren dürfen, lässt sich bis zu einer Reform des Arbeitszeitgesetzes nicht genau sagen. Klar ist indes: Der Betriebsrat kann die Einführung einer Arbeitszeiterfassung im Unternehmen zwar nach wie vor nicht verlangen, darf aber mitreden, wie die konkrete Lösung auszusehen hat. Mit dem Urteil dürfte der Druck auf die Bundesregierung noch steigen. Immerhin hat sie das Arbeitszeitgesetz bereits auf ihrem inoffiziellen Aufgabenzettel, dem Koalitionsvertrag, stehen. Man wolle prüfen, welchen Anpassungsbedarf man angesichts der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zum Arbeitszeitrecht sehe. „Dabei müssen flexible Arbeitszeitmodelle (z. B. Vertrauensarbeitszeit) weiterhin möglich sein.“ Mehr zu Zeiterfassungs-Tools hier: 4 Methoden, um die Arbeitszeit im Team zu dokumentieren Während die Gewerkschaften für die Arbeitszeit im Homeoffice eher noch strengere Kontrollen fordern, wünschen sich manch Arbeitsmarktforscher und auch Rechtsexperten wie der Fachanwalt Wolfgang Lipinski von der Kanzlei Advant Beiten eine umfassende Reform. „Am dringendsten sollte der Gesetzgeber die Flexibilität im Arbeitsverhältnis dadurch stärken, dass er die tägliche Acht-Stunden-Arbeitszeitgrenze abschafft und stattdessen eine Wochenhöchstarbeitszeit einführt“, so Lipinski. Das existierende Arbeitszeitrecht entspreche häufig nicht mehr der praktischen Lebenswirklichkeit.