Urteil Arbeitszeiterfassung
5 Mythen zur Arbeitszeiterfassung – und was wirklich im Urteil steht

Die Vertrauensarbeitszeit ist tot, die Zeiterfassung nur digital möglich? Irrtum! Das Bundesarbeitsgericht hat die Details zu seiner Entscheidung geliefert – und einiges klargestellt.

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Urteilsbegründung veröffentlicht
© MirageC/Moment/Getty Images

Mitte September fällte das Bundesarbeitsgericht (BAG) eine überaus überraschende Entscheidung: Angestellte müssen ihre Arbeitszeit erfassen. In dieser Klarheit hatten das die wenigsten erwartet. Doch die Details des Urteils (Az.: 1 ABR 22/21) blieben unklar: Über Monate existierte nur eine dürre Pressemitteilung, die kaum länger als eine DIN-A4-Seite war.

Experten und Beobachter versuchten sich dennoch an einer Deutung – und entwickelten dabei auch die ein oder andere steile These. Mit ihrer 22-seitigen Urteilsbegründung räumen die Richterinnen und Richter jetzt mit einigen Irrtümern auf. 5 Mythen zur Arbeitszeiterfassung – und wie das Gericht wirklich entschieden hat.

Mythos 1: Die Vertrauensarbeitszeit ist tot

Spätestens mit dem Urteil des Bundesarbeitsgerichts sah so mancher das Ende der Vertrauensarbeitszeit nahen. Nach der Lektüre der Urteilsbegründung lässt sich sagen: Die Vertrauensarbeitszeit lebt, und das wird sie auch in Zukunft tun. Dass einige Experten das flexible Arbeitsmodell für tot erklärten, lag an einem Missverständnis – nämlich dass sich Arbeitszeiterfassung und Vertrauensarbeitszeit ausschließen. Doch das ist gar nicht der Fall.

„Vertrauensarbeitszeit bedeutet eine freie Einteilung der Arbeitszeit“, sagt Jörn Kuhn, Fachanwalt für Arbeitsrecht bei der Kanzlei Oppenhoff in Köln. „Vertrauensarbeitszeit bedeutete aber noch nie, dass man nichts dokumentieren muss.“ Schon nach altem Recht mussten Angestellte, wenn Vertrauensarbeitszeit vereinbart war, ihre Überstunden erfassen. Es ändert sich also nicht viel – nur dass eben jetzt nicht mehr die Überstunden, sondern der Beginn und das Ende der Arbeitszeit vermerkt werden müssen.

Insofern bleiben auch mit diesem Urteil flexible Arbeitszeitmodelle möglich. Fährt ein Außendienstler um 13 Uhr zu einem Kunden und setzt sich abends um 19 Uhr zur Nachbereitung des Termins noch mal an den Schreibtisch, wird er das auch künftig machen können. Hauptsache, er erfasst die jeweiligen Arbeitszeiten.

Mehr dazu hier: Was gehört zur bezahlten Arbeitszeit?

Mythos 2: Die Arbeitszeit muss digital erfasst werden

Zurück zur Stechuhr, hieß es nach dem Urteil des BAG in vielen Beiträgen. Weil die europäischen Richter verlangten, dass die Arbeitszeit mit einem „objektiven, verlässlichen und zugänglichen“ System aufgezeichnet werden müsse, folgerten manche, das müsse digital oder elektronisch passieren. Nur dann würden die Daten objektiv dokumentiert und seien verlässlich vor Manipulationen geschützt.

Der Experte
Jörn Kuhn ist Fachanwalt für Arbeitsrecht und Partner der Kanzlei Oppenhoff in Köln.

Doch in der Urteilsbegründung steht etwas Anderes. Arbeitgeber brauchen keine digitalen Tools oder elektronische Stechuhren an der Wand. Stift und Stundenzettel reichen. „Je nach Tätigkeit und Unternehmen“, schreiben die Richterinnen und Richter, genügten „Aufzeichnungen in Papierform“. Entscheidend sei die Größe des Unternehmens, so das BAG. Soll heißen: Kleine Betriebe müssen keinen großen Aufwand betreiben.

„Es wäre vollkommen übertrieben, wenn ein Maler mit 10 Mitarbeitern ein teures Arbeitszeiterfassungssystem anschafft“, sagt Kuhn. Stattdessen dürfe der Arbeitgeber seinem Team auch sagen: „Schreibt euch die Arbeitszeiten auf der Baustelle auf und reicht das am Ende der Woche ein.“ Im Zweifel auch per Mail.

Übrigens ist der Aufwand auch dafür nicht zu unterschätzen: Bei 30 Mitarbeitern am Ende der Woche zu checken, dass auch wirklich jede und jeder vollständige Stundenzettel eingereicht oder per Mail geschickt hat, dürfte so manchem Alleingeschäftsführer einen unschönen Freitagabend bereiten. Dann doch lieber eine Stechuhr am Eingang der Produktionshalle.

Stundenzettel zwei Jahre aufbewahren

Arbeitgeber sollten die Arbeitszeit-Aufzeichnungen ihrer Angestellten zwei Jahre lang aufbewahren, empfiehlt Kuhn. Diese Frist steht im Arbeitszeitgesetz (ArbZG), das ja eigentlich veraltet ist. Trotzdem ist es sinnvoll, sich daran zu halten, bis es ein neues Gesetz gibt. Falls die Arbeitsschutzbehörde zu Besuch kommt und die Stundenzettel oder Mails sehen will.

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Mythos 3: Die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung gilt für alle

In der Pressemitteilung, die das Bundesarbeitsgericht nach dem Urteil im September herausgab, sprachen die Richter von „Arbeitnehmern“. Auch das Bundesarbeitsministerium schrieb in einem FAQ, die Arbeitszeit „einer jeden Arbeitnehmer bzw. eines jeden Arbeitnehmers“ müsse gemessen werden. Daraus schlossen manche Experten, dass alle Angestellten ihre Arbeitszeit aufzeichnen müssten, ohne Ausnahme.

Doch dem ist nicht so. Bei der Arbeitszeiterfassung dürfen Ausnahmen gemacht werden. Das BAG lässt in der Urteilsbegründung ausdrücklich zu, dass bestimmte Mitarbeitergruppen ausgeklammert werden. Welche das sein können, muss der Gesetzgeber definieren. Was er noch nicht getan hat.

Ausnahmen für leitende Angestellte

Im aktuellen, aber veralteten Arbeitszeitgesetz gibt es eine solche Ausnahme bereits in § 18: Demnach müssen Führungskräfte und Chefärzte ihre Überstunden nicht aufzeichnen. Doch Vorsicht: Damit sind leitende Angestellte im Sinne des Betriebsverfassungsrechts gemeint. Menschen also, die in freier Entscheidung Mitarbeiter einstellen oder entlassen können, die weisungsfrei agieren und wichtige betriebliche Entscheidungen fällen dürfen. Das trifft nur auf sehr wenige Führungskräfte zu.

Der Hamburger Arbeitsrechtler Alexander Lentz schreibt in einem Blogbeitrag, dass „von einer allgemeinen Aufzeichnungspflicht für leitende Angestellte einstweilen auch weiterhin nicht auszugehen ist“. Und Anwalt Kuhn erwartet, dass ein neues Arbeitszeitgesetz womöglich wieder Ausnahmen für Führungskräfte vorsieht – wobei der Kreis dieses Mal größer gezogen werden könnte.

„Denkbar ist zum Beispiel, dass der Gesetzgeber Menschen von der Erfassungspflicht ausnimmt, die ein Gehalt oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze für die Rente bekommen.“ Die liegt aktuell bei einem Jahresgehalt von rund 85.000 Euro. Es könnte auch Ausnahmen für Führungskräfte mit Personal- oder besonderer Fachverantwortung geben.

Mythos 4: Bevor es kein neues Gesetz gibt, müssen Arbeitgeber nichts unternehmen

Seit 2019 lässt der deutsche Gesetzgeber auf sich warten. Damals hatte der Europäische Gerichtshof entschieden, dass Arbeitgeber ein „objektives, verlässliches und zugängliches System“ einführen müssen, mit dem sie die tägliche Arbeitszeit ihrer Angestellten messen können (Az.: C-55/18). Das entsprach leider gar nicht dem deutschen Arbeitszeitgesetz. Das gab seit 1994 vor, dass nur die Überstunden, aber nicht die gesamte Arbeitszeit dokumentiert werden müssen. Also musste ein neues Gesetz her.

Deshalb war der Tipp, dass Betriebe erst mal auf die Reform warten sollten, aus damaliger Sicht gar nicht so verkehrt. Doch der Gesetzgeber hat sich bis heute nicht gerührt. Und so verlor das Bundesarbeitsgericht im September 2022 die Geduld und urteilte, dass Arbeitgeber „verpflichtet“ sind, ein Erfassungssystem einzuführen – weil es immer noch kein deutsches Gesetz gibt, in dem das so ausdrücklich steht.

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Das Gericht formulierte die Pflicht schon in der Pressemitteilung kurz nach dem Urteil sehr klar. Dennoch gab es wieder Stimmen, die zunächst die Urteilsbegründung abwarten wollten. Jetzt ist die Begründung da. Und immer noch wollen einige warten, insbesondere in Wirtschaftsverbänden – dieses Mal darauf, wie der Gesetzgeber mit der Urteilsbegründung umgeht.

Ein neues Gesetz ist nicht wirklich nötig

Ganz klar: Es ist wirklich nicht mehr empfehlenswert, auf ein Gesetz zu warten. Wer immer noch nicht die tägliche Arbeitszeit seiner Mitarbeiter aufzeichnet, sollte das jetzt schleunigst tun, empfiehlt Jörn Kuhn. „Wir brauchen kein neues Gesetz.“ Durch das Urteil stünden Arbeitgeber bereits heute in der Pflicht. „Das muss man nicht neu erfinden.“

Wer – wider die Vernunft – weiter warten will: Das Bundesarbeitsministerium hat jetzt immerhin einen Gesetzentwurf für das erste Quartal 2023 angekündigt.

Mythos 5: Bei Verstößen gegen die Erfassungspflicht drohen Bußgelder

Wer die neue Pflicht zur Arbeitszeiterfassung ignoriert, hieß es nach dem Urteil, müsse mit bis Bußgeldern von bis zu 30.000 Euro rechnen. Doch auch das ist eine steile These. Sie unterschlägt, dass das Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG), auf das sich das Bundesarbeitsgericht in seinem Urteil stützt, in § 25 ArbSchG keine direkte Strafe vorsieht. Die Geldbußen sind nicht an einen Verstoß gegen das Gesetz gekoppelt, sondern an den Verstoß gegen eine Anordnung der jeweiligen Arbeitsschutzbehörde.

Das heißt: Wenn das Amt für Arbeitschutz nicht zu Besuch kommt, keinen Verstoß feststellt und keine entsprechende Anordnung erlässt, ist auch kein Bußgeld möglich. Das sind ziemlich viele Voraussetzungen.

Die Arbeitszeit der Angestellten nicht zu erfassen, führt also für sich genommen noch nicht zu einem Bußgeld. Was keine Aufforderung sein soll, es weiterhin zu lassen, sagt Anwalt Kuhn. Er erwartet, dass die Bundesländer sich bald abstimmen, die Arbeitszeiterfassung bei Firmenbesuchen verstärkt zu prüfen, und auch Richtlinien für die Bußgeldhöhe festlegen werden. „Das wird den Ämtern für Arbeitsschutz bei Kontrollen mehr Durchschlagskraft verleihen.“

Mitte September fällte das Bundesarbeitsgericht (BAG) eine überaus überraschende Entscheidung: Angestellte müssen ihre Arbeitszeit erfassen. In dieser Klarheit hatten das die wenigsten erwartet. Doch die Details des Urteils (Az.: 1 ABR 22/21) blieben unklar: Über Monate existierte nur eine dürre Pressemitteilung, die kaum länger als eine DIN-A4-Seite war. Experten und Beobachter versuchten sich dennoch an einer Deutung – und entwickelten dabei auch die ein oder andere steile These. Mit ihrer 22-seitigen Urteilsbegründung räumen die Richterinnen und Richter jetzt mit einigen Irrtümern auf. 5 Mythen zur Arbeitszeiterfassung – und wie das Gericht wirklich entschieden hat. Mythos 1: Die Vertrauensarbeitszeit ist tot Spätestens mit dem Urteil des Bundesarbeitsgerichts sah so mancher das Ende der Vertrauensarbeitszeit nahen. Nach der Lektüre der Urteilsbegründung lässt sich sagen: Die Vertrauensarbeitszeit lebt, und das wird sie auch in Zukunft tun. Dass einige Experten das flexible Arbeitsmodell für tot erklärten, lag an einem Missverständnis – nämlich dass sich Arbeitszeiterfassung und Vertrauensarbeitszeit ausschließen. Doch das ist gar nicht der Fall. „Vertrauensarbeitszeit bedeutet eine freie Einteilung der Arbeitszeit“, sagt Jörn Kuhn, Fachanwalt für Arbeitsrecht bei der Kanzlei Oppenhoff in Köln. „Vertrauensarbeitszeit bedeutete aber noch nie, dass man nichts dokumentieren muss.“ Schon nach altem Recht mussten Angestellte, wenn Vertrauensarbeitszeit vereinbart war, ihre Überstunden erfassen. Es ändert sich also nicht viel – nur dass eben jetzt nicht mehr die Überstunden, sondern der Beginn und das Ende der Arbeitszeit vermerkt werden müssen. Insofern bleiben auch mit diesem Urteil flexible Arbeitszeitmodelle möglich. Fährt ein Außendienstler um 13 Uhr zu einem Kunden und setzt sich abends um 19 Uhr zur Nachbereitung des Termins noch mal an den Schreibtisch, wird er das auch künftig machen können. Hauptsache, er erfasst die jeweiligen Arbeitszeiten. Mehr dazu hier: Was gehört zur bezahlten Arbeitszeit? Mythos 2: Die Arbeitszeit muss digital erfasst werden Zurück zur Stechuhr, hieß es nach dem Urteil des BAG in vielen Beiträgen. Weil die europäischen Richter verlangten, dass die Arbeitszeit mit einem „objektiven, verlässlichen und zugänglichen“ System aufgezeichnet werden müsse, folgerten manche, das müsse digital oder elektronisch passieren. Nur dann würden die Daten objektiv dokumentiert und seien verlässlich vor Manipulationen geschützt. [zur-person] Doch in der Urteilsbegründung steht etwas Anderes. Arbeitgeber brauchen keine digitalen Tools oder elektronische Stechuhren an der Wand. Stift und Stundenzettel reichen. „Je nach Tätigkeit und Unternehmen“, schreiben die Richterinnen und Richter, genügten „Aufzeichnungen in Papierform“. Entscheidend sei die Größe des Unternehmens, so das BAG. Soll heißen: Kleine Betriebe müssen keinen großen Aufwand betreiben. „Es wäre vollkommen übertrieben, wenn ein Maler mit 10 Mitarbeitern ein teures Arbeitszeiterfassungssystem anschafft“, sagt Kuhn. Stattdessen dürfe der Arbeitgeber seinem Team auch sagen: „Schreibt euch die Arbeitszeiten auf der Baustelle auf und reicht das am Ende der Woche ein.“ Im Zweifel auch per Mail. Übrigens ist der Aufwand auch dafür nicht zu unterschätzen: Bei 30 Mitarbeitern am Ende der Woche zu checken, dass auch wirklich jede und jeder vollständige Stundenzettel eingereicht oder per Mail geschickt hat, dürfte so manchem Alleingeschäftsführer einen unschönen Freitagabend bereiten. Dann doch lieber eine Stechuhr am Eingang der Produktionshalle. Stundenzettel zwei Jahre aufbewahren Arbeitgeber sollten die Arbeitszeit-Aufzeichnungen ihrer Angestellten zwei Jahre lang aufbewahren, empfiehlt Kuhn. Diese Frist steht im Arbeitszeitgesetz (ArbZG), das ja eigentlich veraltet ist. Trotzdem ist es sinnvoll, sich daran zu halten, bis es ein neues Gesetz gibt. Falls die Arbeitsschutzbehörde zu Besuch kommt und die Stundenzettel oder Mails sehen will. Mythos 3: Die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung gilt für alle In der Pressemitteilung, die das Bundesarbeitsgericht nach dem Urteil im September herausgab, sprachen die Richter von „Arbeitnehmern“. Auch das Bundesarbeitsministerium schrieb in einem FAQ, die Arbeitszeit „einer jeden Arbeitnehmer bzw. eines jeden Arbeitnehmers“ müsse gemessen werden. Daraus schlossen manche Experten, dass alle Angestellten ihre Arbeitszeit aufzeichnen müssten, ohne Ausnahme. Doch dem ist nicht so. Bei der Arbeitszeiterfassung dürfen Ausnahmen gemacht werden. Das BAG lässt in der Urteilsbegründung ausdrücklich zu, dass bestimmte Mitarbeitergruppen ausgeklammert werden. Welche das sein können, muss der Gesetzgeber definieren. Was er noch nicht getan hat. Ausnahmen für leitende Angestellte Im aktuellen, aber veralteten Arbeitszeitgesetz gibt es eine solche Ausnahme bereits in § 18: Demnach müssen Führungskräfte und Chefärzte ihre Überstunden nicht aufzeichnen. Doch Vorsicht: Damit sind leitende Angestellte im Sinne des Betriebsverfassungsrechts gemeint. Menschen also, die in freier Entscheidung Mitarbeiter einstellen oder entlassen können, die weisungsfrei agieren und wichtige betriebliche Entscheidungen fällen dürfen. Das trifft nur auf sehr wenige Führungskräfte zu. Der Hamburger Arbeitsrechtler Alexander Lentz schreibt in einem Blogbeitrag, dass „von einer allgemeinen Aufzeichnungspflicht für leitende Angestellte einstweilen auch weiterhin nicht auszugehen ist“. Und Anwalt Kuhn erwartet, dass ein neues Arbeitszeitgesetz womöglich wieder Ausnahmen für Führungskräfte vorsieht – wobei der Kreis dieses Mal größer gezogen werden könnte. „Denkbar ist zum Beispiel, dass der Gesetzgeber Menschen von der Erfassungspflicht ausnimmt, die ein Gehalt oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze für die Rente bekommen.“ Die liegt aktuell bei einem Jahresgehalt von rund 85.000 Euro. Es könnte auch Ausnahmen für Führungskräfte mit Personal- oder besonderer Fachverantwortung geben. [mehr-zum-thema] Mythos 4: Bevor es kein neues Gesetz gibt, müssen Arbeitgeber nichts unternehmen Seit 2019 lässt der deutsche Gesetzgeber auf sich warten. Damals hatte der Europäische Gerichtshof entschieden, dass Arbeitgeber ein „objektives, verlässliches und zugängliches System“ einführen müssen, mit dem sie die tägliche Arbeitszeit ihrer Angestellten messen können (Az.: C-55/18). Das entsprach leider gar nicht dem deutschen Arbeitszeitgesetz. Das gab seit 1994 vor, dass nur die Überstunden, aber nicht die gesamte Arbeitszeit dokumentiert werden müssen. Also musste ein neues Gesetz her. Deshalb war der Tipp, dass Betriebe erst mal auf die Reform warten sollten, aus damaliger Sicht gar nicht so verkehrt. Doch der Gesetzgeber hat sich bis heute nicht gerührt. Und so verlor das Bundesarbeitsgericht im September 2022 die Geduld und urteilte, dass Arbeitgeber „verpflichtet“ sind, ein Erfassungssystem einzuführen – weil es immer noch kein deutsches Gesetz gibt, in dem das so ausdrücklich steht. Das Gericht formulierte die Pflicht schon in der Pressemitteilung kurz nach dem Urteil sehr klar. Dennoch gab es wieder Stimmen, die zunächst die Urteilsbegründung abwarten wollten. Jetzt ist die Begründung da. Und immer noch wollen einige warten, insbesondere in Wirtschaftsverbänden – dieses Mal darauf, wie der Gesetzgeber mit der Urteilsbegründung umgeht. Ein neues Gesetz ist nicht wirklich nötig Ganz klar: Es ist wirklich nicht mehr empfehlenswert, auf ein Gesetz zu warten. Wer immer noch nicht die tägliche Arbeitszeit seiner Mitarbeiter aufzeichnet, sollte das jetzt schleunigst tun, empfiehlt Jörn Kuhn. „Wir brauchen kein neues Gesetz.“ Durch das Urteil stünden Arbeitgeber bereits heute in der Pflicht. „Das muss man nicht neu erfinden.“ Wer – wider die Vernunft – weiter warten will: Das Bundesarbeitsministerium hat jetzt immerhin einen Gesetzentwurf für das erste Quartal 2023 angekündigt. Mythos 5: Bei Verstößen gegen die Erfassungspflicht drohen Bußgelder Wer die neue Pflicht zur Arbeitszeiterfassung ignoriert, hieß es nach dem Urteil, müsse mit bis Bußgeldern von bis zu 30.000 Euro rechnen. Doch auch das ist eine steile These. Sie unterschlägt, dass das Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG), auf das sich das Bundesarbeitsgericht in seinem Urteil stützt, in § 25 ArbSchG keine direkte Strafe vorsieht. Die Geldbußen sind nicht an einen Verstoß gegen das Gesetz gekoppelt, sondern an den Verstoß gegen eine Anordnung der jeweiligen Arbeitsschutzbehörde. Das heißt: Wenn das Amt für Arbeitschutz nicht zu Besuch kommt, keinen Verstoß feststellt und keine entsprechende Anordnung erlässt, ist auch kein Bußgeld möglich. Das sind ziemlich viele Voraussetzungen. Die Arbeitszeit der Angestellten nicht zu erfassen, führt also für sich genommen noch nicht zu einem Bußgeld. Was keine Aufforderung sein soll, es weiterhin zu lassen, sagt Anwalt Kuhn. Er erwartet, dass die Bundesländer sich bald abstimmen, die Arbeitszeiterfassung bei Firmenbesuchen verstärkt zu prüfen, und auch Richtlinien für die Bußgeldhöhe festlegen werden. „Das wird den Ämtern für Arbeitsschutz bei Kontrollen mehr Durchschlagskraft verleihen.“