Historische Krisen
„Neu ist: Wir können den Planeten zugrunde richten“

In der Antike gab es Fachkräftemangel. Die Pest hat neue Geschäftsmodelle hervorgebracht: Der Historiker Ewald Frie erforscht vergangene Krisen. Ein Interview darüber, was wir aus ihnen lernen können.

10. Januar 2024, 08:59 Uhr, von Wiebke Harms, Wirtschaftsredakteurin

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Historische Krisen
© Warren Faidley/The Image Bank/Getty Images

Kriege, Krankheiten, Katastrophen und andere Krisen ziehen sich durch die Geschichte der Menschheit. Ewald Frie, Professor für Neuere Geschichte an der Universität Tübingen, hat in einem großen Forschungsprojekt mit anderen Historikern untersucht, wie Menschen in der Vergangenheit mit Bedrohungen umgegangen sind. Im Buch „Krisen anders denken“ ­berichten Frie und seine Kollegen über ihre ­Erkenntnisse.

impulse: Die Unterzeile Ihres Buches lautet „Wie Menschen mit Bedrohungen umgegangen sind und was wir daraus lernen können“. Warum lohnt sich der Blick in die Vergangenheit?
Ewald Frie:
Unserer Ansicht nach vermehrt das Wissen um vergangene Krisen die Fähigkeit, mit zukünftigen Bedrohungen umzugehen. Jede Gesellschaft ­findet eigene Wege im Umgang mit Krisen. Aber zwischen ihren unterschiedlichen Vorgehens­weisen gibt es charakteristische Ähnlichkeiten.

Sie haben sich unterschiedliche Krisen angeschaut: Pestausbrüche, Pandemien oder die Asienkrise. Was sind die Gemeinsamkeiten?
Wir sehen Muster, die sich wiederholen: Eine ­Bedrohung wird benannt, als ein für die Gesellschaft zentrales Thema dargestellt. Wir beobachten in dieser Phase viel Konkurrenz um die Frage: Was genau ist eigentlich das Problem? Das führt zu scharfen Auseinandersetzungen. Dann gibt es eine Art Pingpong zwischen Lösungsvorschlägen, die häufig nicht funktionieren, und schließlich eine neue Definition des Problems. Diesen Prozess durchlaufen Gesellschaften im Verlauf einer Krise mehrmals.

Können Sie ein Beispiel dafür nennen?
Henning Tümmers zeigt das in unserem Buch anhand der Debatten über Aids in den 1980er-Jahren. War Homosexualität das Problem? Das Verhalten einer bestimmten Gruppe von Homosexuellen? Oder ging es um eine nicht hinreichend solidarische Gesellschaft und ein zu wenig reflektiertes Sexualverhalten aller, wie Rita Süßmuth letztlich erfolgreich propagierte.

Was folgt dann?
Verschiedene Gruppen versuchen, Ressourcen und Menschen zu mobilisieren, um das Problem zu lösen. Und wir sehen in den Krisen, die wir untersucht haben, dass gesellschaftliche Selbstbilder ins Wanken geraten. Das ist bei Krisen in unserer heutigen Zeit nicht anders. Wir sehen das in häufig gebrauchten Metaphern. Zum ­Beispiel die Debatte zu Flucht und Migration in den 1990er-Jahren: „Das Boot ist voll“-Plakate beschreiben eine andere Zukunftsvision als die ­Aufkleber „Alle Menschen sind Ausländer. Fast überall“.

Das Buch
Cover Krisen anders denkenWie Menschen mit Bedrohungen umgegangen sind und was wir daraus lernen können.
Ewald Frie (Hrsg.), Mischa Meier (Hrsg.)
Propyläen, 560 Seiten, 32 Euro

Verändert sich eine Gesellschaft also durch Krisen?
Es finden deutliche Verschiebungen statt. Die Asienkrise Ende der 1990er-Jahre zum Beispiel: Die Tigerstaaten mussten Neustrukturierungen in Kauf nehmen, um Gelder vom Internationalen Währungsfonds zu bekommen. In Indonesien hatte das erhebliche Auswirkungen auf die demokratischen Strukturen. Der Staatspräsident Suharto musste zurücktreten. Und weltweit ist seit dieser Krise die Wahrnehmung von Globalisierung eine andere als zuvor. Das hatte besonders auf eine soziale Gruppe Auswirkungen, auf die Unternehmensvertreter. Für sie war es das Ende des Optimismus.

Was kann ich als Einzelne aus den vergangenen Krisen lernen?
Man kann durchaus für sich selber mitnehmen: Jene, die sich anfangs an die Spitze der Mahner und Alarmierer setzen, überschätzen ihre Möglichkeiten, Veränderungen zu kontrollieren. Am Ende sind es nicht diese Menschen, die vorn ­stehen. Die Welle überrollt sie. Fast immer steht am Ende etwas ganz anderes, als die ersten ­lauten Mahner vorhergesagt haben.

Zum Beispiel?
Karlmann, der Ururenkel Karls des Großen, wollte das Karolingerreich aus der Krise retten, indem er den moralischen Mahner gab. Normannen­einfälle wurden als Strafe Gottes interpretiert, gegen die Nächstenliebe und ein gottgefälliges Leben helfen sollten. Genützt hat es nichts. Karlmann starb bei einem Jagdunfall, das Monopol der Karolinger auf die Königsherrschaft endete 888. Die Zukunft gehörte regionalen Größen, die so gewalttätig wie pragmatisch waren. Auf Karlmanns flammende Appelle zu mehr Moral und Nächstenliebe gaben sie wenig.

Geht es auch anders?
Angela Merkel hat sich 2015 und 2016 sowie 2020 in ganz eigener Weise an die Öffentlichkeit gewandt. Sie hat nie große Metaphern verwendet, nicht wie andere gesagt: „Wir führen einen Krieg gegen das Virus.“ Stattdessen hat sie immer sehr zurückgenommen formuliert. Uns ist das so vorgekommen, als würde sie bewusst die Chancen ausschlagen, die in der dramatischen Eskalation liegen, um langfristig den Prozess kontrollieren zu können.

Die Corona-Pandemie, Klimawandel, Krieg: Es kann einem so vorkommen, als nehme die Zahl der Krisen zu.
In der Geschichtswissenschaft gibt es eine Argumentation, die davon ausgeht, die Moderne funktioniere im Modus der Krise. Im Gegensatz dazu hätten vormoderne Gesellschaften weniger auf Krisen reagiert, weil sie an das Transzendentale geglaubt haben und durch diesen Glauben mit größerem Vertrauen ausgestattet waren.

Sie klingen skeptisch.
Ich halte das für falsch. Auch Menschen im 12. oder im 17. Jahrhundert haben nicht einfach auf Gott vertraut und abgewartet. Sie haben genauso wie wir heute versucht, ihr Leben zu gestalten und waren genauso besorgt. Was heute jedoch anders ist: Wir sind in der Lage, uns über alle Bedrohungen gleichzeitig zu informieren. Dadurch können wir Probleme besser lokalisieren. Aber sie scheinen uns auch allgegenwärtiger.

Hat diese Gefühl einen Einfluss?
Im Buch haben wir einen Beitrag über den Hurrikan Irma auf Haiti. Aus dem Text wird klar, dass die Menschen dort schon mit so vielen Bedrohungen konfrontiert sind, dass eine weitere Katastrophe sie nicht noch mehr in Alarmbereitschaft versetzen kann. Sie leben in dauerhafter Beunruhigung. Das hat Folgen: Das Vertrauen in größere Strukturen geht verloren. Man verlässt sich nur noch auf sich selbst und das nächste Umfeld. Die Wahrnehmung einer Krise hängt also nicht nur vom Ausmaß des Problems ab. Sondern auch davon, wie eine Gesellschaft aufgestellt ist und welche Erfahrungen sie bereits mit Krisen ­gemacht hat.

Wir beklagen uns heute über „Krisen von ­historischem Ausmaß“ oder über „noch nie dagewesene Herausforderungen“. Gibt es die überhaupt?
In schwierigen Situationen berufen sich Menschen häufig auf die Geschichte: So schlimm wie heute war es noch nie. Auf ihre Art sind die Texte in unserem Buch vielleicht ganz heilsam. Weil sie zeigen, dass jedes Zeitalter seine eigenen Herausforderungen gehabt hat und dass wir verhältnismäßig gut gepuffert sind gegen Krisenfolgen.

Sind wir also heute besser gegen Krisen ­gerüstet als in der Vergangenheit?
Während der Corona-Pandemie konnte der Staat in Deutschland und anderen Ländern einen Teil der Wirtschaftstätigkeit substituieren. In einer vergleichbaren Situation im 18. Jahrhundert wäre das ausgeschlossen gewesen. Der Staat hätte gar nicht über die Mittel dafür verfügt. Das ist ein sehr großer Unterschied zwischen heutigen und vergangenen Krisen. Und eines ist leider noch neu: Dass wir die Möglichkeit haben, unseren Planeten im Ganzen zugrunde zu richten. Dazu waren die Menschen vor der Industrialisierung nicht in der Lage. Die ökologische Frage, vor der wir stehen, ist darum aus meiner Sicht wirklich neu. Auch wenn der apokalyptische Ton, den ich damit anschlage, alt ist.

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