Unconscious Bias
Schätze ich Menschen falsch ein?

Manche Leute bezeichnen mich als "schwierig". Ich halte das für eine Fehleinschätzung. Verpasse auch ich anderen einen unfairen Stempel? Eine Kolumne von impulse-Chefredakteurin Nicole Basel.

6. März 2024, 08:17 Uhr, von Nicole Basel, Chefredakteurin

Führungsfragen - Die Kolumne
Nicole Basel führt als Chefredakteurin die impulse-Redaktion. An dieser Stelle schreibt sie über Fragen, die sie als Chefin beschäftigen.

Bei einem Teamworkshop im letzten Jahr hatte ich ein Erlebnis, das mich nicht mehr loslässt. In dem Workshop sollten wir uns selbst einschätzen: Wie offen sind wir für Neues? Wie extrovertiert? Wie wettbewerbs­orientiert? Wie verletzlich?

Eine meiner Kolleginnen hatte ich immer als Fels in der Brandung erlebt. Als eine, der Konflikte kaum ­nahegehen, die Druck souverän wegsteckt. Umso mehr überraschte mich ihre Selbsteinschätzung: Sie fühlte sich verletzlich, sensibel, manchmal unsicher.

Ich hatte ihr ein falsches Label verpasst. Sie sagte mir, dass sie sich abends oft sehr viele Gedanken ­mache. Und mir fiel auf: In all den Jahren hatte ich sie nie gefragt, wie es ihr geht. Ich dachte, es ginge ihr gut.

Es passiert so schnell: Wir sehen Menschen, beobachten ihr Verhalten, ihr Auftreten, ihr Aussehen – und ziehen unsere Schlüsse:

  • „Melanie war heute wieder so pampig. Die hat einfach ein dünnes Nervenkostüm.“
  • „Günther sagt in Besprechungen nie etwas. Dem ist mittlerweile auch alles egal.“

Die Tätigkeit als Hobbypsychologe ist ein Problem

Das sieht man, wenn man die Sache umdreht: Stellt man sich vor, dass andere einem einen Stempel verpassen, merkt man, wie unangenehm das ist. Ich persönlich etwa kann sehr hartnäckig für ­meine Überzeugungen kämpfen. Das hat mir schon öfter das Label „Die ist schwierig“ eingebracht.

Doch Schubladendenken ist menschlich: Unser Gehirn greift auf das zurück, was wir bereits kennen, und erstellt Gruppierungen, die uns das Einschätzen von Menschen vereinfachen. Psychologen sprechen von Unconscious Bias – von unbewusster Voreingenommenheit. Sie entscheidet darüber, wen wir fördern und wen links liegen lassen. Wem wir etwas zutrauen und wem nicht (Studien zeigen etwa, dass Bewerbern direkt eine hohe Kompetenz zugeschrieben wird, wenn sie große Konzerne im Lebenslauf haben).

Schubladendenken mag menschlich sein, aber als Führungskraft kann man es sich nicht leisten. Motivation und Teamgeist lassen nach, wenn der Chef oder die Chefin bestimmte Personen laufend bevorzugt oder benachteiligt. Wenn Mitarbeitende das Gefühl haben, dass sie abgestempelt wurden, werden sie unzufrieden. Und wer Bewerber vorschnell bewertet, der trifft schlechte Personalentscheidungen.

Was hilft? Selbstreflexion. Die eigene Einschätzung infrage stellen. Sich bewusst dazu entscheiden, eine Person aus der Schublade wieder herauszuholen.

Das ist anstrengend. Doch wie heißt es so schön: ­Etiketten sind für Flaschen – nicht für Menschen.