Reform des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes
Diese Erleichterungen gelten für die Einstellung von Nicht-EU-Bürgern

Weniger Bürokratie, schnellere Verfahren: Das neue Fachkräfteeinwanderungsgesetz soll mehr Talente aus Nicht-EU-Staaten anlocken. Aber gelingt das? Ein Überblick über die geplanten Änderungen.

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Reform des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes
© Javier Zayas Photography / Moment / Getty images

Schon heute fehlen in Deutschland hunderttausende Fachkräfte. Um die Lücke zu verkleinern, will die Bundesregierung die Einwanderung aus Staaten außerhalb der EU erleichtern und die Hürden senken. Gelingen soll dies mit dem neuen Fachkräfteeinwanderungsgesetz, das Bundestag und Bundesrat beschlossen haben. Welche Neuerungen für Unternehmerinnen und Unternehmer wichtig sind: ein Überblick.

Blaue Karte EU: Was gilt künftig für Fachkräfte mit Hochschulabschluss?

Ein etabliertes und sehr häufig genutztes Mittel zur Fachkräfteeinwanderung ist die „Blaue Karte EU“. Sie ist ein Aufenthaltstitel für Hochschulabsolventen aus Nicht-EU-Staaten.

Um diese zu erhalten, müssen ausländische Fachkräfte aktuell einen deutschen Arbeitsvertrag oder eine verbindliche Stellenzusage, ein jährliches Mindestbruttogehalt von aktuell 58.400 Euro sowie einen anerkannten Hochschulabschluss vorweisen. Für Beschäftigte in den Berufsfeldern Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Ingenieurwesen und der Humanmedizin (ausgenommen Zahnmedizin) gilt aktuell ein verringertes jährliches Mindestbruttogehalt von 45.552 Euro.

Diese Gehaltsschwelle sinkt mit der Reform nun spürbar – für die meisten Berufe auf 50 Prozent der Beitragsbemessungsgrenze in der allgemeinen Rentenversicherung. Das bedeutet für ausländische Fachkräfte: Sie benötigen für die Blaue Karte künftig nur noch ein Mindestbruttogehalt von 43.800 Euro.  IT-ler oder Ingenieure müssen noch ein Mindestgehalt von rund 39.680 Euro vorweisen (45,3 Prozent der Beitragsbemessungsgrenze in der allgemeinen Rentenversicherung im Jahr 2023).

Besitzer einer Blauen Karte sollen künftig schneller die Erlaubnis bekommen, dauerhaft in der EU bleiben zu dürfen. Außerdem können sie leichter den Arbeitgeber wechseln und ihre Familie nachholen.

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Was ändert sich für Fachkräfte mit Berufserfahrung?

Fachkräfte können einen Aufenthaltstitel für eine konkrete Beschäftigung erhalten. Dafür müssen sie über einen im Ausland erworbenen und dort staatlich anerkannten Hochschul- oder Berufsabschluss verfügen und in den fünf Jahren zuvor mindestens zwei Jahre lang einschlägige Berufserfahrung gesammelt haben.

Die Expertin
Martina Schlamp ist Fachanwältin für Arbeitsrecht bei der Kanzlei Advant Beiten in München. Sie berät seit vielen Jahren Unternehmen bei der Anwerbung von Fachkräften aus Nicht-EU-Staaten und begleitet sie bei den aufenthaltsrechtlichen Prozessen.

Wichtige Neuerung: Der Abschluss muss nicht mehr zwingend wie zuvor in Deutschland anerkannt werden. „Das waren bisher sehr langwierige, bürokratische Anerkennungsverfahren, beispielsweise im Pflegebereich“, sagt Martina Schlamp, Fachanwältin für Arbeitsrecht bei der Kanzlei Advant Beiten in München. Oft seien Ausbildungen nur teilweise anerkannt worden, und die Fachkräfte mussten bestimmte Lehrgänge absolvieren. Während dieser Zeit habe man in diesem Beruf nicht arbeiten dürfen.

Allerdings ist auch hier ein Mindestgehalt von über 39.000 Euro erforderlich, wenn das einstellende Unternehmen nicht tarifgebunden ist. Gerade in der Gastronomie oder Hotellerie werden sich mit dieser hohen Gehaltsschwelle die Nachwuchssorgen nicht lösen lassen, sagen Kritiker.

Wer das erforderliche Mindestgehalt nicht erreicht, muss weiterhin seinen Berufsabschluss anerkennen lassen. Neu ist jedoch, dass die Person bereits in Deutschland arbeiten darf, während das Anerkennungsverfahren läuft – wenn sich der Arbeitgeber verpflichtet, die Fachkraft für notwendige Qualifikationen freizustellen.

Eine Ausnahme gilt seit 2020 für IT-Spezialisten. Sie mussten bislang weder eine Berufsausbildung noch ein Hochschulstudium nachweisen, sondern lediglich drei Jahre Berufserfahrung haben und mindestens 60 Prozent der Beitragsbemessungsgrenze in der allgemeinen Rentenversicherung im Monat verdienen, 2023 also 52.560 Euro.

Die Gehaltsschwelle wird nun auf mindestens 45 Prozent der Beitragsbemessungsgrenze und die Dauer der notwendigen Berufserfahrung auf zwei Jahre gesenkt.

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Welche weiteren Erleichterungen gelten für Fachkräfte mit Hochschul- oder Berufsabschluss?

Wer einen Abschluss hat, soll darüber hinaus laut dem Gesetz „jede qualifizierte Beschäftigung ausüben können“, also auch Stellen annehmen dürfen, die nicht der ursprünglichen Qualifikation entsprechen. „Man konnte bisher beispielsweise nicht als Arzt in einem völlig anderen Beruf arbeiten“, sagt  Arbeitsrechtlerin Schlamp, die seit vielen Jahren Unternehmen bei der Anwerbung von Fachkräften aus Nicht-EU-Staaten berät und bei den aufenthaltsrechtlichen Prozessen begleitet. Die Einschätzung, ob ein Bewerber für eine Arbeit geeignet ist, überlasse man künftig den Unternehmen. „Das ist eine große Erleichterung, das eröffnet ganz neue Spielräume für Arbeitgeber.“

Einführung einer Chancenkarte

Für Menschen mit einer ausländischen, mindestens zweijährigen Berufsausbildung oder einem Hochschulabschluss soll zur Arbeitssuche eine „Chancenkarte“ auf Basis eines Punktesystems eingeführt werden. Für Kriterien wie Qualifikation, Berufserfahrung oder Deutschkenntnisse werden Punkte vergeben. Wer mindestens sechs Punkte hat, erwirbt eine Chancenkarte – vorausgesetzt, der Lebensunterhalt ist gesichert.

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Die Chancenkarte gilt für einen Zeitraum von bis zu einem Jahr. Sie berechtigt zur Suche nach einem Arbeitsplatz in Deutschland sowie dazu, bestimmte Probearbeiten für jeweils höchstens zwei Wochen oder eine Nebenbeschäftigung von durchschnittlich insgesamt höchstens zwanzig Stunden je Woche auszuüben. „Das ist für das Recruiting von Arbeitgebern interessant, weil auf dieser Basis ausländische Fachkräfte schon im Land sein können“, sagt Schlamp.

Die Karte soll um bis zu zwei Jahre verlängert werden können, wenn der Ausländer einen Arbeitsvertrag oder ein verbindliches Arbeitsplatzangebot für eine qualifizierte Beschäftigung hat und die Bundesagentur für Arbeit zustimmt.

Um die Chancenkarte zu erhalten, müssen Ausländerinnen und Ausländer mindestens deutsche Sprachkenntnisse auf dem Level A1 vorweisen.

Was ändert sich für Fachkräfte ohne Berufserfahrung?

Für ausländische Fachkräfte ohne Berufsausbildung oder Studium war es bisher kaum möglich, in Deutschland zu arbeiten. Eine der wenigen Möglichkeiten war bisher die sogenannte Westbalkan-Regelung, auf deren Basis Arbeitgeber jährlich bis zu 25.000 Arbeitskräfte aus Albanien, Bosnien-Herzegowina, Kosovo, Nordmazedonien, Montenegro und Serbien nach Deutschland holen und beschäftigen konnten.

Aufgrund der hohen Nachfrage mussten die Betroffenen laut Schlamp aber teilweise bis zu einem Jahr warten, um bei den Deutschen Botschaften ein Visum zu beantragen.

Die Regelung war zunächst bis Ende 2023 befristet, soll künftig aber unbegrenzt gelten. Außerdem erhöht der Gesetzgeber das Kontingent auf 50.000 Arbeitskräfte. Menschen aus diesen sechs Staaten können jede Art von Beschäftigung in Deutschland ausüben, ohne eine berufliche Qualifikation nachweisen zu müssen.

Ein Visum beziehungsweise ein Aufenthaltstitel auf Basis der Westbalkanregelung gilt entweder für die Dauer des befristeten Arbeitsverhältnisses oder – falls das Arbeitsverhältnis keine Befristung enthält – zunächst für maximal vier Jahre.

Erstmals soll es außerdem ein Zuwanderungskontingent für unqualifizierte Arbeitskräfte aus anderen Ländern als dem Westbalkan geben, die einen Arbeitsplatz in Deutschland nachweisen. Der Entwurf einer neuen Beschäftigungsverordnung sieht vor, dass tarifgebundene Arbeitgeber oder Unternehmen in Branchen mit allgemeinverbindlichen Tarifvertrag ausländische Angestellte unabhängig von deren Qualifikation beschäftigen können.

Wichtig: Arbeitgeber müssen die Arbeitskräfte, die unter diese Regelung fallen, zu den geltenden tariflichen Bedingungen beschäftigen und die Reisekosten übernehmen. Die Bundesagentur für Arbeit soll die Höhe des Kontingentes festlegen und sich dabei am Bedarf orientieren.

Was ändert sich bei Visaregelungen?

Bisher musste eine Einreise aus den meisten Nicht-EU-Ländern zwingend mit einem zweckgebundenen Visum erfolgen. Wer mit einem Touristenvisum ins Land kam und einen Arbeitsplatz in Aussicht hatte, musste bislang wieder ausreisen und im Heimatland ein Arbeitsvisum beantragen. Mit einem Touristenvisum habe man bisher niemals einen Aufenthaltstitel bei der Ausländerbehörde beantragen können, selbst wenn man einen Arbeitsplatz in Aussicht hatte, sagt Martina Schlamp.

Bis zur Ausstellung des erforderlichen Visums seien oft „locker zwei bis drei Monate vergangen.“ Nach der Einreise nach Deutschland mussten Fachkräfte noch einen Aufenthaltstitel bei den Ausländerbehörden beantragen.

In Zukunft soll dieser bürokratische Aufwand deutlich sinken: Fachkräfte sollen auch mit einem Touristenvisum in Deutschland eine Blaue Karte EU oder einen anderen Aufenthaltstitel zur Erwerbstätigkeit beantragen können.

Was gilt für den Familiennachzug?

Künftig können nicht nur Ehepartner und Kinder, sondern auch die Eltern und Schwiegereltern einer Fachkraft eine Aufenthaltserlaubnis erhalten.

Welche Möglichkeiten gibt es für Asylbewerber?

Auch Asylbewerber sollen es in Zukunft leichter haben, hier zu arbeiten – sie können ihren Asylantrag zurückziehen und eine Aufenthaltserlaubnis zur Erwerbstätigkeit beantragen, ohne auszureisen und ein Visumsverfahren durchlaufen zu haben. Das setzt unter anderem voraus,

  • dass sie vor dem 29. März 2023 eingereist sind,
  • eine entsprechende Qualifikation und ein Arbeitsplatzangebot haben,
  • oder sich bereits in einem Arbeitsverhältnis befinden.

„Dieser Spurwechsel war bisher nicht möglich, selbst wenn man einen Hochschulabschluss oder einen Job in Aussicht hatte“, sagt Schlamp.

Wann treten die Änderungen in Kraft?

Die meisten Regelungen werden sechs Monate nach Verkündung im Bundesgesetzblatt in Kraft treten, die Regelungen zur Blauen Karte EU zum 18. November 2023 und die neue Chancenkarte neun Monate nach Verkündung.

Was sagen Wirtschaftsvertreter zur Reform?

Die Hauptgeschäftsführerin der Industrie- und Handelskammer Region Stuttgart, Susanne Herre, begrüßt vor allem, dass die Verdienstgrenzen sinken, die für Fachkräfte beim Erwerb der Blauen Karte EU gelten. „Unsere große Sorge allerdings ist, dass die Verfahren, insbesondere die zur Chancenkarte, sehr komplex sind“, sagt Herre. Sie stelle jetzt schon fest, dass die Ausländerbehörden personell komplett überfordert seien und die Verfahren unglaublich lange dauerten. Außerdem müssten die Verfahren digitalisiert und entschlackt werden.

Für Jörg Dittrich, dem Präsidenten des Zentralverbands des Deutschen Handwerks, enthalte das novellierte Fachkräfteeinwanderungsgesetz „zahlreiche gute Ansätze“. Das beste Gesetz nütze aber nichts, wenn zu viel Bürokratie zu bewältigen sei und es an der Umsetzung hapere. Ähnlich sieht es Arbeitsrechtlerin Martina Schlamp: „Diese Gesetzesänderung wird ins Leere laufen, wenn sich die Situation bei den Behörden nicht ändert.“

Laut einem aktuellen Bericht der Neuen Züricher Zeitung schiebt beispielsweise das Ausländeramt Frankfurt rekordhohe 20.000 unbearbeitete Anträge vor sich her – rund ein Drittel betrifft Akademiker.

Schon heute fehlen in Deutschland hunderttausende Fachkräfte. Um die Lücke zu verkleinern, will die Bundesregierung die Einwanderung aus Staaten außerhalb der EU erleichtern und die Hürden senken. Gelingen soll dies mit dem neuen Fachkräfteeinwanderungsgesetz, das Bundestag und Bundesrat beschlossen haben. Welche Neuerungen für Unternehmerinnen und Unternehmer wichtig sind: ein Überblick. Blaue Karte EU: Was gilt künftig für Fachkräfte mit Hochschulabschluss? Ein etabliertes und sehr häufig genutztes Mittel zur Fachkräfteeinwanderung ist die "Blaue Karte EU". Sie ist ein Aufenthaltstitel für Hochschulabsolventen aus Nicht-EU-Staaten. Um diese zu erhalten, müssen ausländische Fachkräfte aktuell einen deutschen Arbeitsvertrag oder eine verbindliche Stellenzusage, ein jährliches Mindestbruttogehalt von aktuell 58.400 Euro sowie einen anerkannten Hochschulabschluss vorweisen. Für Beschäftigte in den Berufsfeldern Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Ingenieurwesen und der Humanmedizin (ausgenommen Zahnmedizin) gilt aktuell ein verringertes jährliches Mindestbruttogehalt von 45.552 Euro. Diese Gehaltsschwelle sinkt mit der Reform nun spürbar – für die meisten Berufe auf 50 Prozent der Beitragsbemessungsgrenze in der allgemeinen Rentenversicherung. Das bedeutet für ausländische Fachkräfte: Sie benötigen für die Blaue Karte künftig nur noch ein Mindestbruttogehalt von 43.800 Euro.  IT-ler oder Ingenieure müssen noch ein Mindestgehalt von rund 39.680 Euro vorweisen (45,3 Prozent der Beitragsbemessungsgrenze in der allgemeinen Rentenversicherung im Jahr 2023). Besitzer einer Blauen Karte sollen künftig schneller die Erlaubnis bekommen, dauerhaft in der EU bleiben zu dürfen. Außerdem können sie leichter den Arbeitgeber wechseln und ihre Familie nachholen. Was ändert sich für Fachkräfte mit Berufserfahrung? Fachkräfte können einen Aufenthaltstitel für eine konkrete Beschäftigung erhalten. Dafür müssen sie über einen im Ausland erworbenen und dort staatlich anerkannten Hochschul- oder Berufsabschluss verfügen und in den fünf Jahren zuvor mindestens zwei Jahre lang einschlägige Berufserfahrung gesammelt haben. Wichtige Neuerung: Der Abschluss muss nicht mehr zwingend wie zuvor in Deutschland anerkannt werden. „Das waren bisher sehr langwierige, bürokratische Anerkennungsverfahren, beispielsweise im Pflegebereich“, sagt Martina Schlamp, Fachanwältin für Arbeitsrecht bei der Kanzlei Advant Beiten in München. Oft seien Ausbildungen nur teilweise anerkannt worden, und die Fachkräfte mussten bestimmte Lehrgänge absolvieren. Während dieser Zeit habe man in diesem Beruf nicht arbeiten dürfen. Allerdings ist auch hier ein Mindestgehalt von über 39.000 Euro erforderlich, wenn das einstellende Unternehmen nicht tarifgebunden ist. Gerade in der Gastronomie oder Hotellerie werden sich mit dieser hohen Gehaltsschwelle die Nachwuchssorgen nicht lösen lassen, sagen Kritiker. Wer das erforderliche Mindestgehalt nicht erreicht, muss weiterhin seinen Berufsabschluss anerkennen lassen. Neu ist jedoch, dass die Person bereits in Deutschland arbeiten darf, während das Anerkennungsverfahren läuft – wenn sich der Arbeitgeber verpflichtet, die Fachkraft für notwendige Qualifikationen freizustellen. Eine Ausnahme gilt seit 2020 für IT-Spezialisten. Sie mussten bislang weder eine Berufsausbildung noch ein Hochschulstudium nachweisen, sondern lediglich drei Jahre Berufserfahrung haben und mindestens 60 Prozent der Beitragsbemessungsgrenze in der allgemeinen Rentenversicherung im Monat verdienen, 2023 also 52.560 Euro. Die Gehaltsschwelle wird nun auf mindestens 45 Prozent der Beitragsbemessungsgrenze und die Dauer der notwendigen Berufserfahrung auf zwei Jahre gesenkt. Welche weiteren Erleichterungen gelten für Fachkräfte mit Hochschul- oder Berufsabschluss? Wer einen Abschluss hat, soll darüber hinaus laut dem Gesetz „jede qualifizierte Beschäftigung ausüben können“, also auch Stellen annehmen dürfen, die nicht der ursprünglichen Qualifikation entsprechen. „Man konnte bisher beispielsweise nicht als Arzt in einem völlig anderen Beruf arbeiten“, sagt  Arbeitsrechtlerin Schlamp, die seit vielen Jahren Unternehmen bei der Anwerbung von Fachkräften aus Nicht-EU-Staaten berät und bei den aufenthaltsrechtlichen Prozessen begleitet. Die Einschätzung, ob ein Bewerber für eine Arbeit geeignet ist, überlasse man künftig den Unternehmen. „Das ist eine große Erleichterung, das eröffnet ganz neue Spielräume für Arbeitgeber.“ Einführung einer Chancenkarte Für Menschen mit einer ausländischen, mindestens zweijährigen Berufsausbildung oder einem Hochschulabschluss soll zur Arbeitssuche eine „Chancenkarte“ auf Basis eines Punktesystems eingeführt werden. Für Kriterien wie Qualifikation, Berufserfahrung oder Deutschkenntnisse werden Punkte vergeben. Wer mindestens sechs Punkte hat, erwirbt eine Chancenkarte – vorausgesetzt, der Lebensunterhalt ist gesichert. Die Chancenkarte gilt für einen Zeitraum von bis zu einem Jahr. Sie berechtigt zur Suche nach einem Arbeitsplatz in Deutschland sowie dazu, bestimmte Probearbeiten für jeweils höchstens zwei Wochen oder eine Nebenbeschäftigung von durchschnittlich insgesamt höchstens zwanzig Stunden je Woche auszuüben. „Das ist für das Recruiting von Arbeitgebern interessant, weil auf dieser Basis ausländische Fachkräfte schon im Land sein können“, sagt Schlamp. Die Karte soll um bis zu zwei Jahre verlängert werden können, wenn der Ausländer einen Arbeitsvertrag oder ein verbindliches Arbeitsplatzangebot für eine qualifizierte Beschäftigung hat und die Bundesagentur für Arbeit zustimmt. Um die Chancenkarte zu erhalten, müssen Ausländerinnen und Ausländer mindestens deutsche Sprachkenntnisse auf dem Level A1 vorweisen. Was ändert sich für Fachkräfte ohne Berufserfahrung? Für ausländische Fachkräfte ohne Berufsausbildung oder Studium war es bisher kaum möglich, in Deutschland zu arbeiten. Eine der wenigen Möglichkeiten war bisher die sogenannte Westbalkan-Regelung, auf deren Basis Arbeitgeber jährlich bis zu 25.000 Arbeitskräfte aus Albanien, Bosnien-Herzegowina, Kosovo, Nordmazedonien, Montenegro und Serbien nach Deutschland holen und beschäftigen konnten. Aufgrund der hohen Nachfrage mussten die Betroffenen laut Schlamp aber teilweise bis zu einem Jahr warten, um bei den Deutschen Botschaften ein Visum zu beantragen. Die Regelung war zunächst bis Ende 2023 befristet, soll künftig aber unbegrenzt gelten. Außerdem erhöht der Gesetzgeber das Kontingent auf 50.000 Arbeitskräfte. Menschen aus diesen sechs Staaten können jede Art von Beschäftigung in Deutschland ausüben, ohne eine berufliche Qualifikation nachweisen zu müssen. Ein Visum beziehungsweise ein Aufenthaltstitel auf Basis der Westbalkanregelung gilt entweder für die Dauer des befristeten Arbeitsverhältnisses oder - falls das Arbeitsverhältnis keine Befristung enthält - zunächst für maximal vier Jahre. Erstmals soll es außerdem ein Zuwanderungskontingent für unqualifizierte Arbeitskräfte aus anderen Ländern als dem Westbalkan geben, die einen Arbeitsplatz in Deutschland nachweisen. Der Entwurf einer neuen Beschäftigungsverordnung sieht vor, dass tarifgebundene Arbeitgeber oder Unternehmen in Branchen mit allgemeinverbindlichen Tarifvertrag ausländische Angestellte unabhängig von deren Qualifikation beschäftigen können. Wichtig: Arbeitgeber müssen die Arbeitskräfte, die unter diese Regelung fallen, zu den geltenden tariflichen Bedingungen beschäftigen und die Reisekosten übernehmen. Die Bundesagentur für Arbeit soll die Höhe des Kontingentes festlegen und sich dabei am Bedarf orientieren. Was ändert sich bei Visaregelungen? Bisher musste eine Einreise aus den meisten Nicht-EU-Ländern zwingend mit einem zweckgebundenen Visum erfolgen. Wer mit einem Touristenvisum ins Land kam und einen Arbeitsplatz in Aussicht hatte, musste bislang wieder ausreisen und im Heimatland ein Arbeitsvisum beantragen. Mit einem Touristenvisum habe man bisher niemals einen Aufenthaltstitel bei der Ausländerbehörde beantragen können, selbst wenn man einen Arbeitsplatz in Aussicht hatte, sagt Martina Schlamp. Bis zur Ausstellung des erforderlichen Visums seien oft „locker zwei bis drei Monate vergangen.“ Nach der Einreise nach Deutschland mussten Fachkräfte noch einen Aufenthaltstitel bei den Ausländerbehörden beantragen. In Zukunft soll dieser bürokratische Aufwand deutlich sinken: Fachkräfte sollen auch mit einem Touristenvisum in Deutschland eine Blaue Karte EU oder einen anderen Aufenthaltstitel zur Erwerbstätigkeit beantragen können. Was gilt für den Familiennachzug? Künftig können nicht nur Ehepartner und Kinder, sondern auch die Eltern und Schwiegereltern einer Fachkraft eine Aufenthaltserlaubnis erhalten. Welche Möglichkeiten gibt es für Asylbewerber? Auch Asylbewerber sollen es in Zukunft leichter haben, hier zu arbeiten - sie können ihren Asylantrag zurückziehen und eine Aufenthaltserlaubnis zur Erwerbstätigkeit beantragen, ohne auszureisen und ein Visumsverfahren durchlaufen zu haben. Das setzt unter anderem voraus, dass sie vor dem 29. März 2023 eingereist sind, eine entsprechende Qualifikation und ein Arbeitsplatzangebot haben, oder sich bereits in einem Arbeitsverhältnis befinden. „Dieser Spurwechsel war bisher nicht möglich, selbst wenn man einen Hochschulabschluss oder einen Job in Aussicht hatte“, sagt Schlamp. [mehr-zum-thema] Wann treten die Änderungen in Kraft? Die meisten Regelungen werden sechs Monate nach Verkündung im Bundesgesetzblatt in Kraft treten, die Regelungen zur Blauen Karte EU zum 18. November 2023 und die neue Chancenkarte neun Monate nach Verkündung. Was sagen Wirtschaftsvertreter zur Reform? Die Hauptgeschäftsführerin der Industrie- und Handelskammer Region Stuttgart, Susanne Herre, begrüßt vor allem, dass die Verdienstgrenzen sinken, die für Fachkräfte beim Erwerb der Blauen Karte EU gelten. „Unsere große Sorge allerdings ist, dass die Verfahren, insbesondere die zur Chancenkarte, sehr komplex sind“, sagt Herre. Sie stelle jetzt schon fest, dass die Ausländerbehörden personell komplett überfordert seien und die Verfahren unglaublich lange dauerten. Außerdem müssten die Verfahren digitalisiert und entschlackt werden. Für Jörg Dittrich, dem Präsidenten des Zentralverbands des Deutschen Handwerks, enthalte das novellierte Fachkräfteeinwanderungsgesetz „zahlreiche gute Ansätze“. Das beste Gesetz nütze aber nichts, wenn zu viel Bürokratie zu bewältigen sei und es an der Umsetzung hapere. Ähnlich sieht es Arbeitsrechtlerin Martina Schlamp: „Diese Gesetzesänderung wird ins Leere laufen, wenn sich die Situation bei den Behörden nicht ändert.“ Laut einem aktuellen Bericht der Neuen Züricher Zeitung schiebt beispielsweise das Ausländeramt Frankfurt rekordhohe 20.000 unbearbeitete Anträge vor sich her – rund ein Drittel betrifft Akademiker.
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