Angenommen, im Unternehmen passiert ein Unfall: Ein Kollege fällt die Treppe herunter; eine Kollegin schneidet sich bei der Arbeit mit dem Teppichmesser in die Hand; der Auszubildende wird auf dem Firmenparkplatz angefahren. In solchen Situationen ist allen klar: Die verletzte Person braucht sofort Hilfe. Was aber, wenn die Not eines Kollegen nicht so offensichtlich ist? Wenn es nicht um akute körperliche Probleme, sondern um die Psyche geht?
Genauso wie es erste Hilfe bei körperlichen Leiden gibt, könnten Unternehmerinnen und Unternehmer sogenannte MHFA-Ersthelferinnen und -helfer für psychische Belastungen einsetzen, quasi Sanitäter für die Seele. Konkret sind es Mitarbeitende, die in einem kompakten Kurs gelernt haben, Teammitglieder in Krisenzeiten zu helfen.
MHFA steht für „Mental Health First Aid“, übersetzt „Erste Hilfe bei mentalen Gesundheitsproblemen“, und ist ein Ausbildungskonzept, das im Jahr 2000 in Australien entwickelt wurde. Die Idee ist, Menschen über psychische Störungen aufzuklären und sie zu befähigen, seelische Leiden bei anderen zu erkennen sowie ansprechen und einschätzen zu können. Seit 2019 werden dazu auch in Deutschland Kurse angeboten: Teilnehmende lernen häufige psychische Erkrankungen kennen, zum Beispiel Depressionen, Angststörungen oder Sucht, und erhalten von Psychotherapeuten und Psychiatern konkrete Handlungsempfehlungen, was bei akuten Krisen wie Panikstörungen, Psychosen oder Suizidalität zu tun ist.
Neben diesem Programm gibt es inzwischen auch andere, meist lokale Organisationen und Träger, wie Unfallversicherungen oder die Johanniter, die eine Ausbildung in psychologischer Erstbetreuung anbieten. Hier lohnt sich die Recherche, inwieweit diese Kurse zertifiziert sind.
Psychische Erkrankungen sorgen immer häufiger für Krankschreibungen
„Es ist absolut etabliert, Menschen zu Ersthelfern und Ersthelferinnen für körperliche Gesundheit auszubilden“, sagt Simona Maltese, psychologische Psychotherapeutin und eine der Leiterinnen von MHFA Ersthelfer in Deutschland, einer gemeinnützigen Einrichtung für Gesundheitsbildung. „Wir wollen, dass es das auch für psychische Belastungen gibt und die MHFA-Ausbildung zum Standard machen.“
Tatsächlich sorgen psychische Erkrankungen laut „Psychreport 2025“ der Krankenkasse DAK immer häufiger für Krankschreibungen. Vor allem Depressionen und Angststörungen sind laut Report in allen Altersgruppen verbreitet, besonders häufig allerdings bei Beschäftigten in sozialen Berufen wie Pflege und Erziehung.
Im Hinblick darauf scheint es sinnvoll, das Thema mentale Gesundheit anzugehen und in der Firmenleitung zu überlegen: Welche Formen der Prävention und Intervention bei psychischen Krisen gibt es in meinem Betrieb?
Ihr Problem ist letztlich dein Problem
Abseits der aktuellen Zahlen gibt es einen sehr einfachen Grund, Mitarbeitende zu MHFA-Ersthelfenden auszubilden: Arbeitgeber kommen dadurch aktiv ihrer gesetzlich vorgeschriebenen Fürsorgepflicht nach. Diese umfasst nämlich auch das seelische Wohlbefinden von Angestellten. Arbeit darf keine dauerhafte psychische Belastung darstellen oder bestehende psychische Probleme verstärken.
Eine Herausforderung, schließlich geht es nicht nur um den Job an sich, sondern auch um Arbeitsbedingungen und das Miteinander im Team. Von ständigem Lärm im Büro, über Mobbing bis hin zu klassischem Stress durch zu viele und komplexe Aufgaben kann alles die mentale Gesundheit von Beschäftigten beeinträchtigen.
Meist ist es Aufgabe der Führungskraft herauszufinden, ob Mitarbeitende psychisch besonders belastet sind und was der Grund dafür ist. Doch im stressigen Arbeitsalltag bleibt dafür meist kaum Zeit. Und: „Psychische Probleme sind noch immer ein Tabuthema am Arbeitsplatz“, sagt Maltese. „Die Angst von Betroffenen vor Stigmatisierung und beruflichen Konsequenzen ist zu groß.“
Weniger schwierig als Gespräche mit der Führungskraft über die eigene Verfassung seien hingegen Gespräche mit Kolleginnen und Kollegen. Sprich: Die Hürde, sich MHFA-Ersthelfern im Team zu öffnen, ist vergleichsweise niedrig. Zumal sie zur Verschwiegenheit verpflichtet sind und nur bei akuten Krisen professionelle Hilfe vermitteln. Und auch nur, wenn die betroffene Person einverstanden ist. „Nicht bei jedem Menschen entwickelt sich eine psychische Störung, und nicht jeder braucht Psychotherapie“, sagt Maltese. „Manchmal hilft schon ein Gespräch mit einer vertrauensvollen Person, die zuhört und Verständnis zeigt.“
Gespräche über Gesundheit gehören zur Arbeit
Ein weiterer Grund, warum das Thema psychische Gesundheit an den Arbeitsplatz gehört: Hier kommen Menschen regelmäßig zusammen, digital oder persönlich, und optische oder Verhaltensänderungen von Teammitgliedern, die auf Krisen hindeuten, fallen schnell auf. Zum Beispiel, wenn ein sonst gut gelaunter Kollege immer stiller wird und sich nicht mehr an Meetings beteiligt; die Auszubildende immer dünner und blasser wird; die zuverlässige Kollegin in letzter Zeit immer etwas knapp dran ist und zunehmend gestresst wirkt.
„Viele Menschen wissen nicht, ob und wie sie ihre Beobachtungen bei Kollegen ansprechen sollen“, sagt Maltese. „Sie sind einfach überfordert und ratlos.“ Dadurch erhöhe sich das Risiko, dass Angestellte in Krisensituationen langfristig ernsthafte psychische Störungen entwickeln. „Es ist ein großes Problem, dass Symptome nicht erkannt werden und Betroffene viel zu spät Hilfe bekommen“, sagt Maltese. Natürlich ersetzen MHFA-Ersthelfende keinen Arztbesuch oder eine Therapie, aber sie können in der Not helfen und Betroffene für professionelle Beratung sensibilisieren. „Dadurch schließt sich eine wichtige Lücke im System.“
MHFA sorgt für Achtsamkeit
Shari Wagner hat vor etwa einem Jahr die Ausbildung zur MHFA-Ersthelferin gemacht. Die 26-Jährige arbeitet in der Personalabteilung von Promatis Software, einem Mittelständler mit 230 Beschäftigten mit verschiedenen Standorten in Deutschland. „Wir arbeiten in einer sehr stressigen Branche mit hoher Arbeitsbelastung“, sagt Wagner. „Deswegen ist das Thema mentale Gesundheit bei uns immer wichtiger.“ So wichtig, dass alle Angestellten eingeladen sind, sich mit ihrem Befinden auseinanderzusetzen und Maßnahmen zu ergreifen, um gesund zu bleiben. Der MHFA-Ersthelfer-Kurs ist eine davon. „Es ist ja nicht nur so, dass man die Probleme bei anderen erkennen und einordnen lernt“, erzählt Wagner über ihre Ausbildungserfahrung. „Man wird auch für den eigenen Stress aufmerksamer.“
Bislang ist Wagner noch nicht als Ersthelferin zum Einsatz gekommen. Daher könne sie aktuell noch nicht sagen, welche konkreten Effekte die Kurse haben, etwa, ob sich dadurch der Krankenstand im Team verringert. „Wir wissen, dass das Angebot im Team sehr geschätzt wird“, erzählt sie, eine ihrer Ersthelfer-Kolleginnen hatte schon ihren ersten Einsatz.
Wagner ist sicher, dass es künftig insgesamt mehr Ersthelfergespräche geben wird. „Wir haben gerade erst angefangen, das Thema mentale Gesundheit im Unternehmen zu priorisieren und die Kurse anzubieten.“
Kosten und Infos
Träger von MHFA-Ersthelfer ist das Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim. Das Programm ist evidenzbasiert und von MHFA International in Australien lizensiert. Teilnehmen kann jeder, Vorwissen braucht es nicht. Die Kurse werden bundesweit in Präsenz sowie online angeboten und dauern immer zwölf Stunden, wobei die Zeiteinteilung flexibel ist: Es können digital zum Beispiel sechs mal zwei Stunden sein oder auch vor Ort an zwei Tagen hintereinander jeweils sechs Stunden. Die Kosten für den Kurs liegen bei rund 220 Euro pro Person. Für Unternehmen, Organisationen und Behörden oder öffentliche Einrichtungen gibt es spezielle Kurs-, Trainings- und Kooperationsangebote. Mehr Informationen findest du auf: mhfa-ersthelfer.de
