Politische Polarisierung im Unternehmen
„Firmen müssen aufgeheizte Diskurse im Team moderieren“

Bei Themen wie Zuwanderung oder Gendern verlaufen tiefe Gräben durch die Gesellschaft. Ein Gespräch mit der Soziologin Judith Muster darüber, was Betriebe tun können, wenn auch ihr Team gespalten ist.

Aktualisiert am 23. September 2024, 07:34 Uhr, von Wiebke Harms, Wirtschaftsredakteurin

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Grafik von vier Personen, die eine Sprechblase in verschiedene Richtungen verschieben.
Auch in Unternehmen kann sich politische Polarisierung zeigen.
© rob dobi / Moment RF / Getty Images

Es ist der 2. September 2024, der Tag nach den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen, als impulse die Soziologin Judith Muster zum Interview trifft. In beiden Ländern hat die AfD erfolgreich abgeschnitten. Die gesellschaftlichen Polarisierungstendenzen zeigen sich nicht nur in den Wahlergebnissen, sondern auch in den Belegschaften der Unternehmen, die Judith Muster mit der Organisationsberatung Metaplan berät – bis hin zu Handgreiflichkeiten auf dem Firmenparkplatz.

impulse: Frau Muster, Sie haben 60 Interviews mit Führungskräften und Geschäftsleitungen geführt, um die Auswirkungen gesellschaftlicher Polarisierung in Organisationen zu verstehen. Was ist Ihnen besonders aufgefallen?
Judith Muster:
Eines hat uns schon vor den eigentlichen Interviews überrascht: Wie wenig Absagen wir auf unsere Gesprächsanfragen erhalten haben. Wir hatten erwartet, dass wir viel Überzeugungsarbeit leisten müssen. Aber wir konnten oft mit dem Vorstand oder der Geschäftsleitung sprechen. Es kam vor, dass wir die Rückmeldung erhielten, Polarisierung sei kein Thema in der Organisation – und wenige Tage später kam eine E-Mail, in der sinngemäß stand: Bei uns ist das offensichtlich doch ein Thema.

Um welche politischen Themen entspinnen sich häufig Konflikte in Firmen?
Der Konflikt zwischen Israel und Gaza und der Angriffskrieg auf die Ukraine sind uns immer wieder begegnet sowie die Themen Zuwanderung und Gendern. Auch Corona scheint ein Wendepunkt gewesen zu sein. Wir hatten erwartet, dass es im Arbeitsumfeld auch um Themen wie ­Renten oder Sozialversicherungsbeiträge gehen könnte. Aber nein, es sind tatsächlich genau die Themen, die auch gesamtgesellschaftlich zu Spannungen führen. Die Ergebnisse der Landtagswahlen und der Europawahl zeigen, wie tief die Gräben inzwischen sind.

Können Unternehmen die politischen Themen nicht von sich fernhalten?
Für uns Soziologen ist das eine außergewöhnliche Beobachtung: Eigentlich müssten sich Unternehmen damit nicht befassen. Sie sind auf das Wirtschaftssystem ausgerichtet. Die meisten können gesellschaftliche Entwicklungen, solange sie keine Auswirkungen auf die Wirtschaft haben, sehr, sehr lange ignorieren. Das ist nun nicht mehr so. Führungskräfte haben das Gefühl, die Polarisierung nicht mehr hinnehmen zu können. Nicht nur aus einer moralischen Haltung heraus, sondern aus einer rein funktionalen Perspektive, weil Betriebsabläufe darunter leiden. Zum Beispiel wenn Mitarbeitende sich aufgrund der Konflikte weigern, miteinander zu arbeiten.

Wie können Unternehmen darauf reagieren?
Wir arbeiten Handlungsfelder heraus, auf denen Firmen tätig werden können. Am Anfang steht für alle die Erkenntnis: Auch in meiner Organisation gibt es Polarisierungen.

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Wie können Unternehmerinnen und Unternehmer Polarisierungstendenzen in ihren Teams erkennen?
Zum Beispiel, wenn sich das, was im Pausenraum sagbar erscheint, ein Stück weit verschiebt. Oder wenn gar Äußerungen fallen, die bisher am Arbeitsplatz nicht denkbar gewesen wären, zum Beispiel Hetze oder Rassismus. Menschen, die schon ihr ganzes Leben von Diskriminierung betroffen sind, werden nun sagen: Das ist für uns nicht neu. Aber in der Breite, die wir in unserer Studie beobachtet haben, fällt die Verschiebung des Sagbaren auch anderen auf.

Gibt es Unternehmen, die besonders anfällig dafür sind?
Es gibt verschiedene Einflugschneisen, über die polarisierte Diskurse eine Organisation erreichen. Das eine ist die Heterogenität der Belegschaft: Wie unterschiedlich sind zum Beispiel Tätigkeiten oder Bildungshintergründe? Ein anderes Thema ist: Wie ist die Organisation verfasst? Orientierungslosigkeit oder eine schlecht verarbeitete Restrukturierung machen Konfliktfelder innerhalb der Belegschaft auf. Diese sind ein Nährboden für Polarisierung.

Wie kann ich mir das vorstellen?
Zum Beispiel haben wir von Fällen erfahren, in denen während einer Reorganisation plötzlich rassistische Kommentare in Chats gemacht worden sind. Das Gedankengut war offensichtlich schon vorher da, aber der Anlass waren Spannungen, die durch den Change-Prozess entstanden sind. Wir robust ein Unternehmen aufgestellt ist, hat viel Einfluss darauf, wie gut oder schlecht gesellschaftliche Konflikte in der Organisation verhandelt werden können.

Wie ist das Unternehmen damit umgegangen?
Das Unternehmen hat den Vorfall stark zum Thema gemacht und eine groß angelegte Aussprache angeregt. Man hat überlegt, welche ­Regeln es braucht, damit Diskussionen in Chats nicht eskalieren. Die Firma hat Verhaltenskodizes überarbeitet und auch deutlich gemacht, dass sie das in der Zukunft nicht mehr dulden wird. Diese Reaktionen haben wir in verschiedenen Organisationen beobachtet, bis hin zu arbeitsrechtlichen Maßnahmen. Aber: Die erste Maßnahme im Schock war auch in diesem Fall, erst mal den Chat abzuschalten. Im Team war daraufhin von Zensur die Rede. Für Organisationen ist es ein Prozess zu erkennen: Nur Verbieten reicht nicht aus, Firmen müssen diese aufgeheizten Diskurse moderieren. Erst mal alles abzuschalten ist eine Reaktion, die wir häufiger beobachtet haben. Unternehmen sind es nicht gewöhnt, sich an gesellschaftlichen Diskursen zu beteiligen.

Müssen Unternehmen also lernen, mit dieser Art von Konflikten umzugehen?
Sie werden nicht darum herumkommen. Die meisten Unternehmen sind zwar nicht geübt darin, gesellschaftliche Konflikte zu verhandeln. Aber sie sind es gewohnt, andere Spannungen zu lösen: In Unternehmen müssen ständig widersprüchliche Ziele in Einklang gebracht werden. Für eine Abteilung zählt Tempo, eine andere muss die Qualität verantworten. Solche Konflikte treten täglich in Organisationen auf. Sie haben dafür Werkzeuge entwickelt, um diese Spannungen zu lösen: Formale Hierarchiestrukturen, die Klarheit für Entscheidungen schaffen und Führung oder Leitbilder, an denen Mitarbeitende ihre Handlungen auslegen können.

Aber das genügt im Umgang mit den polarisierten Konflikten nicht.
Ja. In unseren Interviews kam immer wieder das Thema „für Führung sorgen“ auf. Wenn Krisen auftreten, richten alle den Blick nach oben und wünschen sich eine Positionierung der Geschäftsführung. Das hilft natürlich auch. Aber damit ist nicht gelöst, was im Alltag passiert. Der Vorstand ist selten dabei, wenn in einem Meeting die Diskussion eskaliert oder es zu übergriffigen Situationen kommt. Es sind andere, bei denen die polarisierten Diskurse tatsächlich aufschlagen.

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Wer ist das?
Das können Führungskräfte sein, aber nicht nur. Dafür muss man sich die eigene Organisation genau anschauen und hinterfragen: Wo landen denn diese polarisierten Diskurse? Wo kann man sich hinwenden? Welche Mittel haben Teams oder Abteilungen selbst zur Verfügung? Das mittlere Management soll in den meisten Unternehmen alle möglichen Probleme lösen, hat dafür aber gar nicht die nötigen Führungsmittel und Entscheidungsbefugnisse. Das ist ein sehr typisches Problem in Organisationen, das sich hier noch verschärft, weil die Konflikte aus der Gesellschaft ins Unternehmen kommen und eine zusätzliche Belastung für das mittlere Management darstellen. Ein Ansatz dagegen wäre, den Führungskräften eben ganz klare Leitlinien mit an die Hand zu geben. Ein Vorstand hat das im Interview „seine Meinung erlebbar machen“ genannt.

Fällt es Unternehmen schwer, in ihren Leitlinien klare Positionen zu beziehen?
Uns ist aufgefallen, wie stark die Organisationen in unserer Studie mit der Frage ringen, wie konkret sie in ihren Regeln und Leitlinien werden müssen. Sie riskieren, durch die Formulierung der Verhaltensregeln auch schon wieder zu polarisieren. Ein ganz klassisches Beispiel dafür ist das Gendern. Das ist ein Triggerpunkt, der extrem polarisiert. Wenn Unternehmen dafür straffe ­Regeln aufsetzen, heizen sie gleichzeitig Konflikte an.

Also sollten Unternehmen manche Diskussionen gar nicht erst beginnen?
Doch! Sie sollten sich jedoch vorher darüber Gedanken machen, wie diskursfähig die Organisation schon ist. Der Modus, in dem man diese Konflikte bearbeitet, ist der Diskurs. Den können Unternehmen gestalten, indem sie ihre Teams mit den nötigen Werkzeugen ausstatten. Moderierte Gespräche, Workshops, Einzelgespräche. Das haben wir auch beobachtet: Unternehmen, die das sowieso schon gut können, haben auch weniger Probleme, die Spannungen zu managen, die jetzt auftauchen. Weil sie das Ringen um gute Lösungen sowieso zu ihrem Credo gemacht haben.

Das klingt nach einer großen Aufgabe, die auf Unternehmen zukommt.
Die gute Nachricht ist, dass man Diskurse gestalten kann. Der andere Teil dieser Nachricht ist jedoch: Man muss es nun auch tun. Unternehmen können gesellschaftliche Konflikte innerhalb der Belegschaft nicht einfach laufen lassen. Die Sprengkraft der Themen ist enorm, auch für ­Betriebe, die eigentlich nichts damit zu tun haben wollen. Unternehmen beeinflussen sehr viele Menschen. Das macht sie zu einem der mächtigsten Hebel in unserer Gesellschaft. In unseren Interviews ist spürbar geworden, dass die Unternehmensleitungen sich darüber auch Gedanken machen.

Die Expertin
Bild von Judith MusterDie Soziologin Judith Muster, 45, ist Partnerin der Organisationsberatung Metaplan. Sie lehrt und forscht zusätzlich zu der Beratung an der Universität Potsdam zu postbürokratischen Organisationsmodellen wie Holokratie, zu Führungs- und Managementmethoden.

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