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Wer kennt ihn noch, den „Zappelphilipp“ aus dem Kinderbuch Struwwelpeter? Ein Bild, das viele mit ADHS verbinden: Aufgedrehte, unruhige Kinder, die sich in der Schule nicht konzentrieren können. Dabei ist längst belegt: ADHS (kurz für: Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) ist keine reine Kinderkrankheit und vor allem mehr als motorische Hyperaktivität.
ADHS zählt zu den neurodiversen Ausprägungen. Das bedeutet: „Die Gehirnstrukturen von Menschen mit ADHS weisen Besonderheiten auf, die neurotypische Menschen, also die Mehrheitsgesellschaft, nicht haben“, sagt Aurelia Hack, Arbeits- und Organisations-Psychologin in München. So unterschiedlich, wie beispielsweise unsere Fingerabdrücke sind, so unterschiedlich sind auch unsere Gehirne. Allgemein spricht man hier von Neurodiversität.
„In jedem Büro, in jeder Werkhalle gibt es Menschen mit neurodiversem Hintergrund und außergewöhnlichen Ideen“, sagt Hack, „und wer das ignoriert, verschenkt viel Potenzial.“ Wer die Stärken – aber auch Herausforderungen – von Menschen mit ADHS versteht, kann Betroffene fördern und profitiert von deren unkonventionellen Ideen und kreativen Lösungen.
Was hinter ADHS steckt
In der Öffentlichkeit scheint ADHS präsenter denn je: Persönlichkeiten wie Eckart von Hirschhausen oder die Schwimmweltmeisterin Angelina Köhler sprechen über ihre Diagnose. Auf Instagram gibt es unter dem Hashtag #adhs mehr als 199 000 Beiträge. „Nur ein Hype“, kommentieren die einen, „lächerliche Modediagnose“, schreiben andere.
„Genetik ist zum Glück nicht von der Mode abhängig“, kontert Heiner Lachenmeier. Er ist Facharzt für Psychiatrie & Psychotherapie und fokussiert sich in seiner Arbeit seit 20 Jahren auf ADHS bei Erwachsenen und die Auswirkungen im (Arbeits-)Leben. Seine Beobachtung: „ADHS wird mehr diagnostiziert, weil es mehr erkannt wird.“ Fortschritte in Forschung und Diagnostik tragen dazu bei.
Im medizinischen Kontext gilt ADHS als neurobiologische Störung. Genetik spielt dabei ebenso eine Rolle wie Umwelteinflüsse und individuelle Faktoren. Betroffene nehmen Reize ungefiltert wahr: das Parfüm des Kollegen, die Passanten vor dem Bürofenster oder die Gespräche der Teammitglieder am Nachbarschreibtisch. Ihr Gehirn fühlt sich wegen der einprasselnden Informationen oft überladen an; sich auf eine Aufgabe zu konzentrieren, fällt schwer.
Die Herausforderungen von Menschen mit ADHS
Internationale Studien schätzen, dass etwa 3 bis 5 Prozent der Weltbevölkerung von ADHS betroffen sind. In Deutschland ist schätzungsweise von etwa zwei bis drei Millionen Erwachsenen mit ADHS auszugehen. Die Wahrscheinlichkeit, dass es im eigenen Betrieb betroffene Mitarbeiterinnen oder Mitarbeiter gibt, ist also hoch – zumal von einer höheren Dunkelziffer auszugehen ist.
Aber es gilt auch: „Kennst du einen Menschen mit ADHS, kennst du genau einen“, so Benedikt Schultheiß, Psychologe und ADHS-Coach. Symptome können sich vom Kindes- zum Erwachsenenalter ändern und treten unterschiedlich stark auf. Dennoch zeigen sich einige gemeinsame Muster:
Konzentrationsschwierigkeiten: Viele tun sich schwer, einfache Routineaufgaben dauerhaft konzentriert zu erledigen, etwa Akten sortieren oder Excel-Tabellen pflegen. Gleichzeitig betont Lachenmeier: „Manche schätzen genau diese Aufgaben, weil sie klar strukturiert sind.“
Auch lassen sich ADHS-Betroffene leicht ablenken oder reagieren irritiert auf Veränderungen. „Ich erinnere mich an einen Mechaniker, dessen Arbeitsplatz in der Werkshalle verlegt wurde. Er hatte jetzt direkten Sichtkontakt zu den Kolleginnen und Kollegen, konnte sich dadurch nicht konzentrieren und machte viele Fehler“, erzählt der Psychiater. Die Lösung: Die Werkleitung ermöglichte eine Rückkehr zum gewohnten Arbeitsplatz. Schnell stimmten Tempo und Qualität wieder.
Hyperaktivität: Statt herumzutoben, zeigt sich die körperliche Unruhe bei Erwachsenen subtiler, etwa wenn jemand alle zehn Minuten in die Kaffeeküche geht oder im Meeting unaufhörlich mit dem Kugelschreiber klickt. „Ein unterbewusster Coping-Mechanismus, der die Reizübertragung im Gehirn anregt und beim Konzentrieren hilft“, erklärt Schultheiß. Ein Grund, warum ADHS übrigens bei Mädchen und Frauen häufig übersehen wird: Ihre Hyperaktivität kehrt sich oft ins Innere, im Kindesalter sprudeln sie vor Fantasie, später kreisen die Gedanken unaufhörlich – von außen kaum wahrnehmbar.
Impulsivität & Selbstzweifel: Oft falle es Betroffenen schwer, mit den eigenen Emotionen umzugehen, so Hack. „Es ist eine versteckte Tatsache, dass ADHS-ler enorm an Selbstzweifeln leiden“, sagt Lachenmeier. Wer von Vorgesetzten kritisiert wird, entwickelt schnell einen Tunnelblick auf den Kritikpunkt, blendet positives Feedback aus – und verteidigt sich impulsiv, was wiederum zu Reibungen führen kann. Auch ständiges Reinreden oder unpassende Scherze können Ausdruck mangelnder Impulskontrolle sein.
Neben all den Herausforderungen sei es wichtig zu betonen, dass nicht jeder Mensch mit ADHS unter der Störung selbst leide, so Lachenmeier. „Ein großer Teil des Leidens entsteht erst daraus, dass man selbst oder das Umfeld nicht weiß, wie man funktioniert, und dann schnell Missverständnisse mit anderen Menschen entstehen.“
ADHS als Stärke im Arbeitsalltag
In unserer modernen, auf Leistung ausgelegten Gesellschaft hätten neurotypische Personen enorm viele Vorteile, so Lachenmeier. „Geht es aber ums Improvisieren oder innovatives Denken, haben ADHS-ler die Nase vorn.“
Innovatives Denken: Betroffene sind nicht per se kreativer, aber sie können besser assoziativ denken. So berichtet Lachenmeier von einem Monteur in der Gebäudeautomatisierung, der kurzerhand ein neues Bauteil selbst entwickelte. Es war langlebiger, obendrein konnte er es schneller einbauen. Seinen Stärken nach wurde er fortan in der Entwicklungsabteilung eingesetzt.
Improvisationstalent: Unter Zeitdruck leisten Betroffene oft Herausragendes: In Notsituationen denken viele ADHS-ler plötzlich klar und zeigen laut Lachenmeier „ein Improvisationstalent, das weit über den Umgang mit betrieblichen Notfällen hinausgeht“. Ein Vorteil, der sie auch zu idealen Ersthelfenden im Betrieb macht.
Hyperfokus: Bei Themen oder Aufgaben, für die sie sich besonders interessieren, bringen Menschen mit ADHS eine schier endlose Energie auf, arbeiten stundenlang höchstkonzentriert und mit besonderem Blick auf Details. Im sogenannten Hyperfokus kann eine Informatikerin zum Beispiel stundenlang programmieren und dabei auch ihre eigenen Bedürfnisse wie Hunger oder Schlaf vergessen. Ein Kollege, der für Zahlen und deren Zusammenhänge brennt, entdeckt vielleicht als Einziger den Fehler im Jahresabschluss.
Feine Antennen: Auch auf der menschlichen Ebene bringen Betroffene Stärken mit. Schultheiß: „Sie sind oftmals sehr feinfühlig, erkennen Spannungen im Team früh.“ So sprechen sie am Teamtag im Namen aller auch mal die gedrückte Stimmung nach einer weiteren Budgetkürzung an. Herrscht im Unternehmen ohnehin eine offene Teamkultur, lohne es sich auch zu fragen, ob ADHS-Betroffene Vertrauensrollen übernehmen möchten, etwa als Ansprechperson für neue Teammitglieder.
Das Arbeitsumfeld neuroinklusiv gestalten
So abstrakt „neuroinklusiv“ klingen mag, so beschreibt es schlicht: Ein Umfeld, in dem alle Menschen, egal, wie ihr Gehirn funktioniert, egal, wo ihre Stärken und Schwächen liegen, ihr volles Potenzial entfalten und zum Unternehmenserfolg beitragen können. „Inklusion ist kein Extraservice, sondern eine moderne, menschenorientierte Führungshaltung“, sagt Schultheiß.
Auch Lachenmeier betont: „Führungskräfte sind keine Therapeuten und müssen keine Diagnose stellen können.“ Entscheidend sei, unabhängig von ADHS, ein Gefühl dafür zu entwickeln, unter welchen Umständen die eigenen Beschäftigten die beste Leistung erbringen. „Zu verstehen: ‚Der oder die tickt ein bisschen anders‘. Das ist wichtiger als jedes Label.“
Flexibilität beim Arbeitsplatz schaffen: „Sobald pauschalisiert wird, kommen Aussagen wie: ADHS-ler können sich im Großraumbüro nicht konzentrieren“, sagt Lachenmeier. Manche aber sind eher vom Lärm im eigenen Kopf abgelenkt und arbeiten gerade im Trubel besonders gut. Chefinnen und Chefs können viele Angebote schaffen:
Physisch
- Homeoffice-Optionen
- Einzelbüros als Rückzugsorte
- Noise-Cancelling-Kopfhörer
- Gymnastikbälle
Strukturell
- flexible Arbeitszeiten
- anpassbare (dimmbare) Lichtverhältnisse
- Fokuszeiten
- Möglichkeiten zur Projektrotation
Missverständnisse vermeiden: Eine Mitarbeiterin oder ein Mitarbeiter verhält sich stets diskret, eher unsicher, überrascht dann aber mit explosiven Ausbrüchen im Feedbackgespräch, gefolgt von extremen Entschuldigungen. Ursache können der Tunnelblick auf negative Rückmeldungen, Selbstzweifel oder Overthinking sein. Letzteres bedeutet, dass eine Person Kritik immer wieder gedanklich durchkaut und sich dadurch selbst verunsichert.
Was hilft? Betroffene nicht in Watte packen, aber darauf achten, zuerst echte Wertschätzung zu äußern, dann erst Kritik anzubringen. „So kann man verhindern, dass ADHS-Betroffene diesen negativen Röhrenblick bekommen. Wenn das nämlich passiert, ist Eskalation und Streit nicht fern“, sagt Heiner Lachenmeier.
Zusammenarbeit: „Ein gutes Umfeld zu schaffen, geht nur, wenn Führungskräfte willens sind, eine gute Beziehung mit ihren Mitarbeitenden zu haben“, so Lachenmeier.
- Wenn man bemerkt, dass ein Teammitglied gestresst ist, wenn es ständig neue To-dos bekommt, einfach mal fragen „Wäre es dir lieber, einmal am Tag gebündelt alle Aufgaben zu bekommen?“
- Wenn jemand bei einer Aufgabe kaum zu bremsen ist, lohnt es sich, das zu loben, aber auch zu sagen „Manchmal vergisst du in deiner Begeisterung Aspekte. Lass uns gemeinsam brainstormen.“
- Um Meetings zu entstressen, hilft es, vorab die Agenda zu teilen. So können alle ihre Gedanken vorab sortieren, statt spontan reagieren zu müssen.
Erste Schritte können schon im Bewerbungsverfahren gemacht werden: Aurelia Hack empfiehlt, sich öfter von starren Tätigkeitsprofilen zu lösen und lieber anhand der Stärken von Bewerbenden gemeinsam eine Rolle zu entwickeln. Auch hilfreich: Statt Vorstellungsgespräche den Raum für Probearbeiten öffnen.
Es gehe laut der Arbeits- und Organisations-Psychologin nicht darum, Vorteile für Menschen mit ADHS zu schaffen. „Von einem neuroinklusiven Arbeitsumfeld profitieren am Ende alle Angestellten“, sagt sie.
In der Realität gibt es noch zu viele Vorurteile rund um ADHS, weshalb Heiner Lachenmeier dafür plädiert, „gar nicht unbedingt über den Begriff ADHS zu sprechen, sondern einfach über die Art, wie man funktioniert.“
Hilfsangebote und weitere Informationen zu ADHS
Wer weiß, dass es im Team Menschen mit ADHS gibt – oder selbst betroffen ist oder es vermutet – kann nach der Lektüre dieses Artikels aktiv werden:
Auf adhs-deutschland.de bietet die älteste und größte ADHS-Selbsthilfeorganisation Deutschlands Vorträge und Selbsthilfegruppen (online und regional in Präsenz) sowie eine Telefonberatung für Betroffene, Angehörige und alle Interessierte.
Selbsttests können für eine erste Einschätzung hilfreich sein. Beispielsweise diese Symptom-Checkliste (entwickelt von der Weltgesundheitsorganisation gemeinsam mit führenden ADHS-Fachleuten) oder die „ADHS-Selbstbeurteilungsskala“ (Rösler et al.), die auch in Deutschland zur Diagnostik genutzt wird.
Wichtig: Eine Diagnose muss stets eine Fachärztin oder ein Facharzt stellen.
Und sonst? „Führungskräfte profitieren davon, sich regelmäßig auszutauschen“, sagt Heiner Lachenmeier, etwa über reizarme Bürogestaltung. Wer typische Anzeichen erkennt, kann betroffene Teammitglieder gezielt fördern und von ihren besonderen Stärken profitieren. „Man muss kein zehnjähriges Studium durchlaufen, um ein Gespür für die Herausforderungen von Menschen mit ADHS zu entwickeln.“
