Inhalt: Darum geht's in diesem Beitrag
„Geteiltes Leid ist halbes Leid; geteilte Freude doppelte Freude“ – klingt platt, scheint aber ein erfolgreiches Führungskonzept zu sein. Shared Leadership heißt der Ansatz, Führungsaufgaben auf mehrere Köpfe zu verteilen – auf der Leitungsebene oder im Team. Diverse Studien belegen, dass Mitarbeitende dadurch vertrauensvoller und produktiver zusammenarbeiten.
Wie das konkret gelingt, ist aber sehr individuell und hängt vor allem von der Unternehmensführung ab. Im Folgenden erhalten Sie einen Überblick über die Möglichkeiten von Shared Leadership sowie Vor- und Nachteile von geteilter Führung.
Was ist Shared Leadership? Definition
Die Idee von Shared Leadership: Führungsarbeit wird auf mehrere Schultern verteilt. Verantwortung zum Beispiel für ein Team oder ein Projekt trägt nicht mehr nur ein Mensch, sondern mindestens zwei. Es gibt sehr unterschiedliche Modelle von Shared Leadership: ausschließlich auf Leitungsebene, ausschließlich auf Teamebene sowie eine Mischung.
„Wichtig ist, dass geteilte Führung das Konzept hierarchischer Führung nicht zwangsläufig ablöst“, sagt Heike Bruch, Professorin für Leadership und Leiterin des Instituts für Führung und Personalmanagement der Universität St. Gallen. Führungskräfte können sogar die Selbstführung ihrer Teams aktiv fördern. Dann ergänzen sich hierarchische Führung und Shared Leadership.
So kann ein Chef oder eine Chefin bestimmte Entscheidungen oder Projekte auch zeitlich begrenzt an eine oder mehrere Personen im Team abgeben, um deren Kompetenzen zu nutzen.
„Kollektive Führung ist weniger an Strukturen ausgerichtet. Vielmehr bildet sie sich in der Regel im Team heraus“, sagt die Führungsexpertin Bruch. Es gehe weniger um formale Rollen einzelner Personen, sondern darum, Führungsaufgaben im Team aufzuteilen und so die Zusammenarbeit zu verbessern. „Dadurch werden Mitarbeitende empowert und können sich mit ihren individuellen Stärken und Interessen nicht nur für die Sache, sondern auch für das Team einsetzen.“ Insgesamt lasse sich dadurch das Teamgefühl stärken.
Beispiele für Shared Leadership in der Praxis
Shared Leadership eignet sich grundsätzlich für Unternehmen jeder Größe. Geteilte Führung kann auch in Form von agilen Strukturen oder holokratischen Modellen umgesetzt werden. „Wichtig ist, dass Leitung und Team ein Modell finden, das zum Unternehmen passt“, sagt Bruch. „Es muss klare Zuständigkeiten und verantwortliche Personen geben, damit alle wissen und wahrnehmen, welche Führungsrollen es gibt und wie die Führung aufgeteilt ist.“
Die Ausgestaltung von Shared Leadership kann sich stetig verändern: je nach Projekt und Bedarf. Und: Es können in einem Unternehmen auch verschiedene Modelle geteilter Führung parallel existieren. Um einen Überblick zu bekommen, hier drei Shared Leadership Beispiele:
1. Topsharing: Zwei Führungskräfte teilen sich die Leitung
Beim sogenannten Topsharing teilen sich zwei Personen dieselbe Stelle – ähnlich wie beim Jobsharing nur eben auf Leitungsebene. Diese Form von Shared Leadership ist recht bekannt, so machte der Stiftehersteller Edding vor einigen Jahren Schlagzeilen, als er zwei Teilzeitkräfte als Führungstandem in den Vorstand berief und so die Stelle des Chief Digital Officers besetzte.
Geteilt werden kann im Topsharing zum Beispiel nach dem Zeitfaktor. So können zwei Teilzeitkräfte jeweils zu 50 Prozent an unterschiedlichen Tagen oder Uhrzeiten da sein. Möglich wäre aber auch eine andere Einteilung, etwa 60/40, je nach Arbeitszeit und Absprache der Führungskräfte.
Eine andere Option wäre, Führung nach Aufgaben zu unterteilen, etwa in fachliche und personalverantwortliche Leitung. Diese Aufteilung ist insbesondere dann sinnvoll, wenn eine Führungskraft sich nicht wohl damit fühlt, Menschen zu führen und sie vor allem wegen fachlicher Expertise in die Leitungsebene geholt wurde.
Inwieweit sich das Tandem an der Spitze abspricht, Übergaben macht und einander unterstützt, ist sehr individuell. Wichtig ist aber, dass eine Vertrauensbasis herrscht und sich die beiden Führungskräfte respektieren und achten.
2. Führungskraft und Teammitglied arbeiten zusammen
Dies ist kein typisches Modell von Shared Leadership, in dem die Führung auf Augenhöhe zwischen zwei Führungskräften aufgeteilt wird. Vielmehr überträgt die Führungskraft bei diesem Modell Verantwortung und Leitungsaufgaben zeitlich begrenzt auf eine oder mehrere Personen aus dem Team.
In der Regel haben die ausgewählten Mitglieder entsprechende Kompetenzen oder Erfahrung, die sie befähigen, bestimmte Entscheidungen zu treffen oder andere Führungsaufgaben zu übernehmen. Zum Beispiel, weil sie Expertise in bestimmten Sachverhalten haben und daher inhaltlich die Projektleitung übernehmen können. Oder sie haben eine Zusatzqualifikation erworben, zum Beispiel als Agiler Coach oder Scrum-Master.
Die formale Leitung und Kontrolle bleibt also weiterhin auf der Führungsebene. Vorrausetzung auch hier ist das Vertrauen zwischen Mitarbeiter und Chef.
3. Projektverantwortung wird auf mehrere im Team verteilt
In diesem Modell liegt die Führung ganz im Team. Die Mitglieder führen sich quasi selbst, je nach Aufgabe und Kompetenz. Entscheidend ist dafür, wie die Mitarbeitenden sich gegenseitig wahrnehmen, wem also die Leitung zugetraut und kollektiv zugewiesen wird.
Heike Bruch vergleicht das mit der deutschen Fußballnationalmannschaft bei der Europameisterschaft 2024: Es gab den Trainer, einen Kapitän im Team und dann gab es noch Toni Kroos, der maßgeblich die Spiele und seine Kollegen beeinflusste und das Zusammenspiel leitete. So könnte es auch in Unternehmen aussehen: Es gibt einen Chef bzw. eine Chefin, der grundsätzliche Regel und Strategien definiert, die konkrete Ausgestaltung liegt dann aber im Team. Hier gibt es formelle wie informelle Führungspersonen, die sich idealerweise ergänzen.
Möglich ist aber auch, dass das Team für eine Aufgabe oder einen Arbeitsbereich Projektverantwortliche bestimmt. „Dieses Modell von geteilter Führung ist tatsächlich in jeder Firma denkbar“, sagt Bruch. Mitarbeitende können dabei auch nur temporär Führungsverantwortung übernehmen und danach wieder in ihre „normale“ Rolle zurückwechseln.
„Das fördert die Eigeninitiative und Kreativität der Teammitglieder und kann für Unternehmen tolle Ergebnisse bringen.“ Allerdings ist die Voraussetzung immer, dass Mitarbeitende Freiraum haben oder empowert werden und den Teammitgliedern vertraut werden muss.
Shared Leadership: Das sind die Vorteile
Folgende positive Aspekte von Shared Leadership in der Praxis sind denkbar:
- Entscheidungen werden von unterschiedlichen Menschen durchdacht, so werden verschiedene Perspektiven einbezogen, was zu neuen bzw. besseren Lösungen führt.
- Das Risiko wird minimiert, dass Arbeit liegenbleibt, weil etwa Entscheiderinnen und Entscheider wegen Krankheit ausfallen, überlastet sind oder das Unternehmen verlassen.
- Die Mitarbeiterbindung wird erhöht, weil Teammitglieder die Arbeit bzw. Zusammenarbeit mitgestalten können und sich bestärkt fühlen, Verantwortung für Aufgaben oder Prozesse zu übernehmen. Zudem steigt das Eigeninteresse, gute Leistung zu bringen, wenn Mitarbeitende mitverantwortlich für den Erfolg des Teams bzw. des Unternehmens sind.
- Die Arbeitsergebnisse verbessern sich, weil die Menschen verantwortlich sind, die das nötige Wissen und die zeitliche Kapazität haben für die Bearbeitung von Aufgaben oder Organisation von Prozessen.
- Es können Menschen in Führung gehen, die das aus zeitlichen Ressourcen sonst nicht könnten, zum Beispiel Eltern oder Menschen, die ihre Angehörigen pflegen.
Shared Leadership: Das sind die Nachteile
Es gibt allerdings auch einige Nachteile von Shared Leadership in der Praxis:
- Wechselnde Verantwortung sorgt für Unklarheiten im Team. Wenn Informationen von verschiedenen Leuten kommen, entstehen leicht Missverständnisse.
- Wenn mehr Personen in die Entscheidungsfindung einbezogen werden, braucht es länger, bis Diskussionen abgeschlossen sind.
- Es gibt weniger Verlässlichkeit für das Team und auch keine Routinen, was die Ansprechbarkeit bzw. Zuständigkeit auf Leitungsebene angeht.
- Die Führungskraft, die laut Arbeitsvertrag haftbar gemacht werden kann, gibt Kontrolle ab und verliert gegebenenfalls den Überblick. Sie kann dann nicht rechtzeitig gegensteuern, falls falsche Entscheidungen getroffen werden.
- Mitarbeitende bekommen Führungsaufgaben, die sie überfordern oder nicht übernehmen wollen. Das kann demotivieren, zu Stress und gesundheitlichen Problemen führen oder sie zur Kündigung bewegen.
Wann ist Shared Leadership in der Praxis sinnvoll?
Eines sollte klar sein: Geteilte Führung braucht Zeit und macht nur Sinn, wenn alle im Team mitziehen und die nötige Geduld aufbringen, alternative Führungskonzepte auszuprobieren. Denn egal wie Shared Leadership in der Praxis umgesetzt wird, es verändert die Zuständigkeiten und die gesamte Zusammenarbeit. Das eine Modell, das für alle Unternehmen passt, gibt es nicht.
Studien zeigen, dass geteilte Führung eher erfolgreich ist, wenn innerhalb des Teams Integrität, Selbstführung, Verständnis für andere und eine vertrauensvolle Einstellung vorhanden sind. Allerdings kann geteilte Führung auch dazu beitragen, diese Eigenschaften innerhalb eines Teams zu entwickeln.
Sollten Unternehmen Shared Leadership in der Praxis einführen wollen, sollten alle Beteiligten einbezogen werden, ein passendes Modell zu finden, zu testen und zu optimieren. Schließlich steckt der Teufel oft im Detail.
Wenn eine Doppelspitze gewählt wird, muss dem Team klar sein, wen sie wann und mit welchen Fragen ansprechen können. Wenn Mitarbeitende in Leitungsfragen einbezogen werden, müssen Befugnisse und Kompetenzfelder definiert werden. Es muss klar sein, wo die Führungsverantwortung beginnt und endet, sprich: Wer hat das letzte Wort?
Auch muss klar sein, was Mitarbeitende dazu befähigt, bestimmte Entscheidungen zu treffen, Projekte zu leiten oder Prozesse aufzusetzen, um Konkurrenz im Team und Missgunst innerhalb des Teams zu vermeiden. Schließlich muss die Leitung und deren Entscheidungen akzeptiert, mitgetragen und letztlich vom Team umgesetzt werden. Nur dann gelingt Shared Leadership in der Praxis.
Prof. Dr. Heike Bruch ist Professorin für Leadership an der Universität St.Gallen und leitet dort das Institut für Führung und Personalmanagement. Für ihre Arbeit wurde sie mehrmals als führende Wissenschaftlerin in der Personalforschung im deutschsprachigen Raum ausgezeichnet. Sie ist Gründerin der energy factory St.Gallen und berät Top-Führungskräfte zu modern Leadership, Kultur und New Work Transformation.
